Türkei: Explosive Lage nach Polizeiaktion

Bei der Polizeiaktion gegen die regierungskritische Koza-Ipek-Holding setzten die Sicherheitskräfte in Istanbul auch Tränengas ein
Ein Erdogan- und regierungskritischer TV-Sender wurde gewaltsam "abgedreht".

Vor der Parlamentsneuwahl in der Türkei am Sonntag spitzt sich die Lage zu. Mit Polizeigewalt stoppten die Behörden am Mittwoch die TV-Sendungen eines regierungskritischen Medienkonzerns. Mit Wasserwerfern und Reizgas verschafften sich Polizisten Zugang zum Istanbuler Firmensitz der Koza-Ipek-Holding, die Zeitungen und Fernsehsender betreibt. Die Beamten schalteten die Satellitenanlage ab und beendeten das Programm. Mehrere Journalisten wurden festgenommen. Die Opposition spricht von „Faschismus“.

Schon seit dem Anschlag von Ankara, bei dem mutmaßliche Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Oktober mehr als 100 Menschen töteten, wird der Streit zwischen der Regierung und ihren Gegnern immer erbitterter. Die Regierungspartei AKP und die Opposition werfen einander vor, am Terror schuld zu sein.
Die Bedrohung durch den IS gehört zu den wichtigen Themen im Wahlkampf – in der Bevölkerung geht die Angst vor weiteren Anschlägen um. Anfang der Woche starben zwei Polizisten und sieben IS-Mitglieder bei einem Feuergefecht im südostanatolischen Diyarbakir. Laut Presseberichten könnte es sich bei den Dschihadisten um Mitglieder einer Terrorzelle gehandelt haben, die neue Gewalttaten plante.

„Stechmücke“

Nun sorgt die aggressive Haltung der Regierung gegenüber kritischen Medien für zusätzlichen Krach. Kritiker halten der AKP und Präsident Tayyip Erdogan vor, die Meinungsfreiheit im Land immer mehr einzuschränken. Erdogan selbst attackiert kritische Medien und Journalisten als Landesverräter. Ein als Erdogan-Gegner bekannter Journalist wurde von einem AKP-treuen Kolumnisten als „Stechmücke“ bezeichnet, die jederzeit zerquetscht werden könne – und dann von AKP-Anhängern krankenhausreif geprügelt. Über seine Anwälte hat Erdogan mehrere Dutzend Strafanzeigen wegen „Beleidigung“ des Präsidenten gestellt – darunter gegen drei Teenager im Alter von 12 bis 15 Jahren.

Koza Ipek gehört zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dem von Erdogan vorgeworfen wird, einen Umsturz in der Türkei zu planen. Offen ist, ob und wie der Skandal um die Polizeiaktion gegen das Unternehmen die Wahl beeinflussen wird. Die AKP kämpft bei der Neuwahl um die Rückeroberung ihrer absoluten Parlamentsmehrheit, die sie bei der Wahl im Juni eingebüßt hatte. Umfragen, auch jene von regierungsnahen Instituten, sehen die Erdogan-Partei derzeit unterhalb der Schwelle von 276 Sitzen, ab der eine Alleinregierung möglich ist.

Sicher ist, dass sich Oppositionswähler nach dem Vorgehen gegen das Medienunternehmen in ihrer Entscheidung gegen die AKP bestärkt sehen werden; zudem könnte das Ereignis wahlmüde Erdogan-Gegner zur Stimmabgabe motivieren. Ob die Polizeiaktion den Zusammenhalt der AKP-Wählerschaft schwächen wird, ist eine offene Frage. Schon vor dem Übernahmeversuch gegen Koza Ipek rumorte es in der AKP vernehmlich; prominente Parteimitbegründer wie der frühere Regierungssprecher Bülent Arinc äußerten sich enttäuscht über Erdogans Kurs.

Keine Stabilität

Sollte die Wahl am Sonntag ähnlich ausgehen wie die im Juni, stellt sich die Frage, ob die AKP als stärkste politische Kraft ernsthafte Koalitionsverhandlungen führen wird oder eine erneute Wahl anstrebt. In Regierungskreisen heißt es, eine dritte Parlamentswahl sei wegen der Wahlmüdigkeit in der Bevölkerung nicht zu erwarten, doch einige AKP-Politiker halten dies durchaus für möglich. Als möglicher Zeitraum für einen erneuten Urnengang ist der April im Gespräch. Bis dahin wäre in der Türkei voraussichtlich weiter eine AKP-dominierte Übergangsregierung im Amt.
Erdogan kann jedoch nicht ewig neu wählen lassen, bis ihm das Ergebnis gefällt – das würde die AKP zerreißen. Fest steht: Die politischen Reibereien in Ankara werden auch nach der Wahl weitergehen, stabile Verhältnisse wird es nicht geben.

Kommentare