Exil-Politiker: "Habe viele Freunde verloren"
Russland hat einen Interpol-Haftbefehl auf ihn ausgestellt: wegen Banditentums, Terrors, Geiselnahme, Mordes und bewaffneten Raubes. In Großbritannien hat er politisches Asyl. Achmed Sakajew ist der prominenteste separatistische Politiker Tschetscheniens, der noch lebt, Exponent des nationalistischen Flügels des tschetschenischen Widerstands. In London verkehrt er im Kreis jener, die der verstorbene Exil-Oligarch Boris Beresowski um sich geschart hatte, und steht in direktem Konflikt mit der aktuellen russischen Führung sowie der tschetschenischen Regionalregierung unter Ramsan Kadyrow, als auch zum zunehmend islamistischen bewaffneten Widerstand unter Rebellenführer Doku Umarow.
KURIER: Wie kommt es, dass Tschetschenien heute vor allem als Brutstätte von Terror und Extremismus wahrgenommen wird?
Achmed Sakajew: Während des ersten Krieges 1994 bis 1996 wurden wir als Banditen, Separatisten, Faschisten und sonstwas gebrandmarkt – aber kein russischer Politiker hatte überhaupt nur davon geträumt, uns Fundamentalisten oder islamistische Terroristen nennen zu können. Es ist unzweifelhaft ein Resultat von Putins Politik gegenüber Tschetschenien, dass er die USA und Europa überzeugt hat, dass sein Vorgehen gegen Tschetschenien Teil des internationalen Kampfes gegen den Terror ist. Der einstige tschetschenische Präsident Maschadow (getötet 2005) hat Terrorismus immer verurteilt – und viel eher versucht, klarzumachen, dass die tschetschenische Bevölkerung von russischen Soldaten terrorisiert wurde. Als Premier der tschetschenischen Regierung ist mir klar, dass Terrorakte im Interesse jener sind, die einen kriminellen kolonialen Krieg gegen Tschetschenien als Krieg gegen den Terror darstellen wollen.
Wenn Sie sich die Biografie der Boston-Attentäter vor Augen halten. Was steht da dahinter?
Was kann ich sagen? Die Tschetschenen wurden seit je her durch russische Propaganda diffamiert. Erst der absurde Vorwurf durch die Sowjets, die Tschetschenen hätten mit den Nazis kollaboriert. Heute zielt die russische Propaganda darauf ab, die Tschetschenen mit einem Minderwertigkeitskomplex zu versehen und ihnen einzureden, ihr Kampf für Freiheit sei nichts anderes als „internationaler Terrorismus“.
Sehen Sie eine internationale Verstrickung?
Ich weiß es nicht. Wie auch immer, ich habe keine Zweifel, dass die USA dieses Verbrechen gründlich und objektiv untersuchen und aufklären werden. Ich rufe jeden auf, das Ergebnis dieser Untersuchung abzuwarten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Was bedeutet der Tod Beresowskis für Sie?
Sehr viel. Ich glaube nicht, dass es Selbstmord war. In den vergangenen zehn Jahren haben wir beide in Großbritannien gelebt – aus bekannten Gründen. In dieser Zeit sind wir einander nähergekommen. Ich denke, zehn Jahre sind lange genug, um eine Person sehr gut kennenzulernen. Zwei Wochen vor seinem Tod habe ich ihn getroffen. Danach haben wir noch einige Male geredet. Ich habe keine Anzeichen bemerkt. Und ich kann Ihnen versichern, Boris war nicht die Art Mensch, die sich etwas antut. Niederlagen und Enttäuschungen haben ihn nur stärker gemacht. Er hat das Leben geliebt und nicht geplant oder sich vorbereitet, es bald zu verlieren. Ich verstehe, wir sind nur Menschen und solche Sachen kommen Menschen in den Sinn. Aber Boris war der größte Feind des russischen Präsidenten Putin. Bei einem solchen Tod tauchen Fragen auf. Wie es mir geht: Seit dem ersten Tschetschenienkrieg habe ich viele Freunde verloren. Ich habe mich daran nie gewöhnt. Die Erinnerung an diese Menschen lässt mich meinen Weg weiter gehen. Es wäre Betrug, würde ich aufhören. Und das könnte ich nie verdauen.
Würden Sie sagen, Sie haben einen Freund verloren?
Ich habe viele Freunde verloren. Aslan Maschadow, Anna Politkowskaja, Alexander Litwinenko. Viele. Und Boris Beresowski. Wir standen uns nahe. Er hatte seine Interessen. Ich hatte meine. Er hatte Russland, ich Tschetschenien. Und wir hatten gemeinsame politische Ziele. Wir haben viele Jahre zusammen verbracht. Wir waren keine engen Freunde, aber wir kannten uns sehr gut.
Sie sagen, es war kein Selbstmord – damit sagen Sie auch, dass jemand dahintersteckt. Würden Sie so weit gehen zu sagen, Russland steht dahinter?
Es wäre keine Übertreibung, das zu sagen. 2006 haben die russischen Geheimdienste durch zwei Gesetze freie Hand dazu erhalten. Erstens: Jeder, der Russlands Regierung kritisiert, wird als Extremist angesehen. Zweitens: Ein Gesetz, das es russischen Diensten erlaubt, diese Leute zu liquidieren. Auch im Ausland.
Was ändert sich für Sie durch Beresowskis Tod? Er war doch ein wichtiger Unterstützer.
Es wird sich nichts verändern. Ja sicher, er war ein wichtiger Unterstützer. Aber es gab keine finanzielle Hilfe von ihm. Wir haben kooperiert – und er hat uns politisch unterstützt.
Hat Beresowski versucht, sich über seine Aktivitäten den Weg zurück nach Moskau zu ebnen?
Ja, natürlich. Ich denke, er hat wohl geplant, nach Russland zurückzukehren. Aber nicht um jeden Preis. Und nicht, um Macht auszuüben. Ich denke, er wollte erhalten, was er in Russland in den 90ern geschafft hat.
Sie sagen, Beresowski wurde getötet. Auch andere wurden getötet. Haben Sie Angst?
Wissen Sie, ich bin unter dauernder Bedrohung gestanden in den vergangenen Jahren. Es wurden auch Leute losgeschickt in dieser Zeit, um mich zu töten. Britischen Geheimdiensten zufolge befinden sich heute mehr russische Spione in London als in der Zeit des Kalten Krieges. Viel mehr noch: Nicht nur in Großbritannien, in ganz Europa. Auch in Österreich.
Wenn Sie auf Morde an Exil-Tschetschenen anspielen – Israilow in Wien: Stehen russische Dienste dahinter oder geht das auf Tschetscheniens Präsidenten Kadyrow zurück?
Genau. Israilow in Wien. Und alle Informationen in diesem Fall liegen offen. Zwischen russischen Diensten und Kadyrows Leuten gibt es keinen Unterschied. Kadyrow ist Moskaus Mann in Tschetschenien. Der Mord an Israilow, da standen Kadyrows Leute dahinter.
Wie groß ist Ihr tatsächlicher Einfluss auf die Dinge, die in Tschetschenien passieren?
Ich bin der Premierminister der legitimen Regierung. Und wir machen viel. Russland weiß das. Der Krieg ist nicht vorbei. Wir werden als Staatsfeinde Russlands und des Okkupationsregimes gesehen. Und solange es uns gibt, können sie nicht sagen: „Wir haben dieses Problem gelöst“. Ich denke aber, wir sollten nicht gegen Russland arbeiten, sondern mit Russland. Auf zivilem Weg.
Stichwort Staatsfeind: Ärgert es Sie, oft in einen Topf mit Doku Umarow (islamistischer kaukasischer Widerstandskämpfer mit El-Kaida-Kontakt, Anm.) geworfen zu werden?
Wir haben mit diesen Leuten nichts zu tun. Wir sind völlig unterschiedlich. Er hat sein Emirat ausgerufen und seither haben wir mit diesem Menschen keine Verbindung. Aber natürlich, es tut weh. Und es macht uns das Leben schwer. Aber es ist auch klar, warum das die Russen machen: Sie versuchen alles, dass wir keine Unterstützung bekommen. Weil Umarow ein Terrorist und Fundamentalist ist. Darum sagen sie, Umarow und Sakajew verkörpern dasselbe. Aber es stimmt nicht. Wir versuchen nur ein demokratisches Land aufzubauen. Und wir werden das auch tun, so Gott will.
Sakajew: Rebell, Politiker, Flüchtling
Exil 2001 ging er ins Exil nach London. Die tschetschenische Separatistenbewegung spaltete sich später in einen islamistischen Flügel unter Doku Umarow, der das Kaukasische Emirat ausrief und sich im Kaukasus versteckt, sowie einen nationalistischen, eher säkularen Flügel unter Achmed Sakajew. Er ist heute der wichtigste tschetschenische Exil-Politiker – aber ohne Einfluss auf die Islamisten. Russland betrachtet ihn als Staatsfeind.
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