"Tiefschwarzer Tag in der Geschichte Europas"

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Die Brexit-Abstimmung der Briten sorgt für ein politisches Erdbeben. Alle Stimmen sind ausgezählt, Großbritannien wird aus der EU austreten.

Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault hat in einer ersten Reaktion erklärt, der Ausgang des EU-Referendums sei "traurig für Großbritannien". Europa werde weitermachen, aber es müsse reagieren, um das Vertrauen der Menschen wiederzugewinnen. Der französische Präsident Francois Hollande berief nach dem Votum der Briten eine Sitzung der Regierung ein. Das Kabinett werde um 9.00 Uhr in Paris zusammenkommen, teilte der Elysee am Freitag mit. Anschließend werde Hollande eine Stellungnahme abgeben.

US-Präsident Barack Obama will nach Angaben seines Amtes im Laufe des Tages mit dem britischen Premierminister David Cameron über den Ausgang des Referendums beraten.

Die Chefin von Frankreichs rechtsextremer Front National, Marine Le Pen, hat weitere Abstimmungen in den EU-Mitgliedsstaaten gefordert. "Sieg der Freiheit!", schrieb Le Pen am Freitagmorgen auf Twitter. "Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU."

Tiefschwarzer Tag

Der europäische Grünen-Chef Reinhard Bütikofer erwartet nun eine drastische Verschärfung der ohnehin schon schwierigen Lage der EU. "Der 23. Juni wird als tiefschwarzer Tag in die Geschichte Europas eingehen", sagte der EU-Abgeordnete der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die populistische Anfechtung werde weitergehen und nur überwunden werden, wenn Europa schnell konkrete Ergebnisse liefere. Als Beispiel für wichtige Projekte nannte Bütikofer die Europäisierung der inneren und äußeren Sicherheit sowie die Weiterentwicklung der Wirtschaft "in ökologischer und sozialer Verantwortung". Bütikofer sprach sich dafür aus, mehr Bereitschaft zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der Europapolitik zu zeigen. "Dass in der EU nicht immer alles gemeinsam vorangetrieben wird, die Nachzügler aber die Vorwärtsbewegung nicht blockieren dürfen, muss viel stärker zur Praxis werden", forderte er. In der Flüchtlingspolitik müssten angesichts großer Divergenzen beispielsweise die Staaten gemeinsam vorausgehen, die man dafür gewinnen könne.

Steinmeier und Kurz

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat sich enttäuscht über den Ausgang des Brexit-Referendums geäußert. "Die Nachrichten aus Großbritannien sind wahrlich ernüchternd", sagte Steinmeier am Freitag in Berlin. "Es sieht nach einem traurigen Tag für Europa und für Großbritannien aus." Der SPD-Politiker wird am Freitag zu einem EU-Ministertreffen in Luxemburg erwartet, bei dem über die Folgen des Referendums beraten werden soll. Am Samstag kommen in Berlin die Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder) zusammen.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat sich am Freitag im Ö1-Morgenjournal in einer ersten Reaktion in London schockiert und überrascht gezeigt. Wenn eines der größten EU-Mitgliedsländer aus der EU austrete, könne "kein Stein auf dem anderen bleiben". Die Abstimmung der Briten sei "definitiv ein Erdbeben".

Tempo der Veränderung muss "enorm" sein

"Die EU wird überleben", so Kurz. Es sei aber notwendig, dass sich die EU schnell neu aufstelle, wenn sich ein solches Referendum nicht in einem anderen EU-Land wiederholen soll. Es werde sich sehr viel in der EU ändern müssen, und das Tempo und Ausmaß dieser Veränderung müssten "enorm" sein. Die EU müsse ihre zentralen Probleme lösen, wie etwa das Thema Migration. Ebenso müsse es eine Diskussion über die Institutionen geben. Es gelte, mit "kühlem Kopf" an der Neuaufstellung der EU zu arbeiten. "Ein Dominoeffekt auf andere Länder ist nicht auszuschließen", sagte Kurz.

Lega Nord feiert "Mut der freien Briten"

Italiens europakritische Oppositionspartei Lega Nord hat den Ausgang des EU-Referendums in Großbritannien begrüßt. "Es lebe der Mut der freien Briten. Herz, Verstand und Stolz besiegen die Lügen, Drohungen und Erpressungen. Danke UK, jetzt kommen wir dran!", twitterte Lega Nord-Chef Matteo Salvini. "Wenn die Gefahr besteht, dass die Bürger nicht nach dem Geschmack der Banker und der Börse stimmen, beginnt ein wahnsinniger medialer Terrorismus. Der Kampf ist lang, doch wir werden ihn gewinnen. Mit Geld kauft man nicht alles", kommentierte Salvini auf seiner Facebook-Seite.

Tusk: "dramatischer Moment"

EU-Ratspräsident Donald Tusk hat den Willen der anderen EU-Staaten zur Geschlossenheit versichert. "Wir sind entschlossen, unsere Einheit der 27 zu erhalten", sagte Tusk am Freitag in Brüssel. Dies sei "ein ernster, wenn nicht dramatischer Moment, politisch" betrachtet. Er habe den anderen 27 EU-Staats- und Regierungschefs ein informelles Treffen am Rande des EU-Gipfels kommende Woche vorgeschlagen, kündigte Tusk an. Er habe auch vorgeschlagen, "dass wir ein weiteres Nachdenken über die Zukunft unserer Union starten".

Tusk hat eingeräumt, dass "die letzten Jahre die schwierigsten für unsere Union" waren. Er fühle sich aber an seinen Vater erinnert, der ihm immer gesagt habe: "Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker", sagte Tusk am Freitag in Brüssel. "Wir können nicht verheimlichen, dass wir uns ein anderes Ergebnis gewünscht hätten", sagte Tusk nach dem britischen EU-Austrittsvotum. Es gebe keine Möglichkeit, alle Konsequenzen des britischen Votums vorherzusagen, vor allem nicht für Großbritannien. Tusk versicherte: "Wir sind vorbereitet auf dieses negative Szenario". Die EU bleibe für die anderen 27 Staaten "der Rahmen für unsere Zukunft". Es gebe jetzt "kein rechtliches Vakuum", sagte Tusk. EU-Recht werde bis zum Austritt Großbritanniens Anwendung auf das Vereinigte Königreich finden. Alle Austrittsverfahren seien klar im EU-Vertrag festgelegt.

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