IS sucht sich neue Ziele und Quartiere

Den IS militärisch zu besiegen, reicht nicht – seine Existenz basiert auf ungelösten Problemen, seine Schlagkraft oft auf dem Irrsinn Einzelner.

Es ist die Genauigkeit, die die Terrormiliz "Islamischer Staat" so gefährlich macht. Und es ist der Ansatz, einen funktionierenden Staat errichten zu wollen, der ihr derzeit zur größten Last wird. Denn ein Staat – das zeigt sich angesichts der militärischen Misserfolge derzeit – wird es wohl nicht werden. Bleibt die Genauigkeit. Penibelst hatte der IS bisher alle möglichen eventuell nützlichen Informationen über seine Kämpfer gesammelt – von Software-Kenntnissen über Wissen über Chemie bis zu militärischen Vorerfahrungen oder religiösen Erfahrungen. Und so konstatiert der Politologe, Terrorexperte und OSZE-Terror-Sonderbeauftragte Peter Neumann vor Journalisten am Rande der OSZE-Terrorkonferenz: "Im Irak hat der IS 60 Prozent seines Gebietes verloren, in Syrien 30 Prozent, aber der größte Fehler, den wir machen könnten, wäre zu sagen: Dieses Problem hat sich erledigt." Ganz im Gegenteil.

Neumann sieht viel eher die Gefahr, dass der in der Defensive befindliche IS gegenüber Europa weitaus aggressiver agieren könnte, als bisher. Schließlich, so Neumann, rufe der IS bereits seit geraumer Zeit Anhänger nicht mehr dazu auf, ins Kalifat zu kommen, sondern in ihren Heimatländern zuzuschlagen.

Hass-Ventil

Das Muster dieser Anschläge in Europa und den USA trägt eine Handschrift: Zum einen erreicht die IS-Propaganda oft Einzeltäter, die zum Teil keinerlei religiöses Wissen vorweisen können, und schafft es, deren wodurch auch immer bestehende Wut in aggressiven Hass umzuwandeln – so etwa beim Attentäter von Orlando. Der hatte zeitweise damit geprahlt, der schiitischen Hisbollah anzugehören, dann aber sein Massaker in einem Schwulen-Club im Nahmen des IS beging. Beide Gruppen sind Todfeinde, er selbst soll ein oft gesehener Gast in dem Club gewesen sein. Auf der anderen Seite unterhält der IS aber durchaus tief ideologisierte Netzwerke in Europa oder schafft es, diese zu mobilisieren. Netzwerke die in der Lage sind, Kriegs-Waffen zu organisieren und komplexe Taten zu verüben, wie die Anschläge von Paris zeigen. Hier schlägt die IS-Bürokratie zu. Denn in diese Netzwerke werden anscheinend gezielt Extremisten mit spezifischem Wissen entsandt.

Und dann ist da der Umstand, dass sich der IS angesichts der militärischen Lage im Irak und in Syrien nach Alternativen umsieht. So im Jemen, Libyen, diversen Staaten Subsahara-Afrikas, Afghanistan, Zentralasien oder auch auf den Philippinen, wo ein IS-Ableger am Dienstag die 200.000-Einwohner-Stadt Marawi einnahm.

Politische Einbindung

Was Syrien und den Irak angeht, so stellt sich die Frage, wie der latente Unmut der sunnitischen Bevölkerung (die Regierung des Irak ist schiitisch geprägt, die Regierung Syriens alawitisch) dauerhaft kanalisiert werden kann. Sprich: Wie die Sunniten konstruktiv in die politischen Prozesse des Landes eingebunden werden können. Schließlich waren die Marginalisierung der Sunniten im Irak und die im Ursprung Religions-freien Proteste dagegen erst das Substrat für den Aufstieg des IS.

Was bei der Frage der terroristischen Bedrohungsszenarien für Europa angesichts des IS derzeit völlig untergeht ist der Umstand, dass El Kaida und sehr ähnlich geprägte, im Vergleich zum IS ideologisch aber weitaus gefestigtere Gruppen in Syrien an Raum gewonnen haben. Mit einer Mischung von ausgefeilter Informationspolitik und gefinkelter Diplomatie haben sich manche davon zu Verhandlungspartnern ausländischer Mächte gemacht. Die ideologischen Unterschiede zum IS liegen dabei aber lediglich in theologischen Spitzfindigkeiten.

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