Die Geschichte verdreht
Seit 1945 war das Kriegsende in der UdSSR und später in Russland zentraler Teil der großen Nationalerzählung. Breschnew, der in den 1960ern das Tauwetter einleitete und vorsichtig den Mantel des Schweigens über den Verbrechen Stalins lüftete, machte den 9. Mai zum Mittelpunkt der Erinnerungskultur: Da konnte sich die UdSSR gemeinsam mit dem Rest der Welt hinter dem großen „Nie wieder“, mit dem Sowjets und Alliierte die größte Ära der Entmenschlichung beendeten, versammeln.
Moskau verband so das Angenehme mit dem Nützlichen. Die UdSSR bastelte sich eine neue Identität zurecht, die ihre eigenen Verbrechen überdeckte: Stalin hatte seine Macht ja ebenso über Leichen errichtet wie Hitler; die Schätzungen der Zahl seiner Opfer, die er foltern, erschießen oder in Gulags verrotten ließ, gehen in die Millionen. Aber der Sieger hieß nun mal Sowjetunion, und so war Hitler das größere Monster. „Ein Staat, der sich durch den Sieg über Hitler legitimierte, brauchte keine Rechenschaft mehr über die Revolution von 1917, den Bürgerkrieg, den Gulag oder den Großen Terror abzulegen“, schrieb der deutsche Historiker Jan C. Behrends dazu.
Diese Methode hat Putin heute wiederbelebt. Nach einer kurzen Zeit der Aufarbeitung unter Gorbatschow und Jelzin begann er bereits in den 2000ern, den Siegeskult von damals wiederauferstehen zu lassen. Im ganzen Land tauchten plötzlich Sticker auf, die statt des „Nie wieder“ eine neue Losung trugen: „Wir können das wiederholen“ stand auf Autos, Litfaßsäulen oder Plakaten, daneben ein Bild von Hammer und Sichel, die ein Hakenkreuz vergewaltigen. Gemeint war damit, dass Russland wieder kämpfen, wieder siegen müsse, denn – so erzählten es Putins Propagandisten – der Krieg habe nie aufgehört.
Angst vor dem Aufstand
Putin änderte nur die Bedrohungskulisse. Die Kreml-Propaganda zielte nicht mehr auf deutsche Nationalsozialisten, sondern auf die angeblichen „Faschisten“ hinter den Umstürzen in den Nachbarstaaten, in Georgien und der Ukraine. Dass bei den dortigen Revolutionen die Menschen auf die Straßen gingen, weil sie genug von Unterdrückung und Korruption hatten, hatte dem Kreml Angst vor Aufständen im eigenen Land gemacht – schließlich war schon damals Putin beileibe nicht der „lupenreine Demokrat“, den manch westlicher Politiker gerne in ihm sehen wollte.
Putins Reaktion war eine martialische. Er ließ seine Truppen in Nordgeorgien einmarschieren, später griff er nach der Krim und dem Donbass. Und ab dem Zeitpunkt änderten sich auch innerhalb Russlands die Spielregeln: Nach den gefälschten Wahlen 2012, als das Interregnum Dmitrij Medwedews endete und Putin in den Kreml zurückkehrte, gingen die Russen zu Tausenden auf die Straße – die Staatsmacht schlug diesmal aber mit voller Stärke zurück. Oppositionelle wurden eingesperrt, die Gesetze verschärft.
Putins neuer Patriotismus war ab diesem Zeitpunkt allerorts. 2014, als er die Krim „zurück nach Russland geholt hatte“, wie er behauptete, ließ er bei der Siegesparade am 9. Mai sogenannte „Banderowzy“ in Fesseln vorführen; ukrainische Soldaten, die sich gegen die Einverleibung ihrer Heimat gewehrt hatten. In der Bevölkerung trugen damals auch auffallend viele das Georgsbändchen, eine schwarz-gelbe Schleife, die das Regime als historisches Zeichen des Sieges über den Faschismus verteilen ließ.
Besonderes Augenmerk legte Putin zudem auf die Jugend: In eigenen Jugendcamps lernten die jungen Russinnen und Russen Patriotismus- und Waffenkunde, dazu wurde der Jugend eingetrichtert, sie sollten möglichst viele Kinder bekommen, um den russischen Staat am Leben zu erhalten.
Siegeskult
All diese Narrative hat Putin zur Staatsdoktrin erhoben. In den Geschichtsbüchern ist nichts mehr vom Hitler-Stalin-Pakt zu lesen; der Sowjetführer war in neuer russischer Lesart nur ein wohlwollender und tapferer Landesvater, der Russland vor der Bedrohung aus dem Westen gerettet hat. Diese „historische Wahrheit“ hat Putin 2020 sogar in der Verfassung verankern lassen.
In Moskau kann man diesen Siegesskult per Dekret sogar am eigenen Leib erleben: Im „Park des Sieges“ im Westen der Hauptstadt können Besucher – Erwachsene wie Kinder – Kalaschnikows auseinanderschrauben und Granatwerfer halten, auch ein Essen in einer Feldküche, wie sie in der Ukraine steht, wird angeboten. Hier ist alles dem Krieg gegen den Westen gewidmet – nicht umsonst steht über dem Eingang „Geschichte wiederholt sich“.
Wer es religiöser mag, kann die Siegeskathedrale außerhalb der Stadt besuchen. Dort schreitet man über Stufen, in die Waffen der deutschen Wehrmacht eingeschmolzen sind, und an der Wand sollte eigentlich eine Ikone von Stalin und Putin hängen. Die hat der Kremlchef 2020, kurz vor Eröffnung, aber wegen massiver Kritik entfernen lassen – etwas, das er heute wohl nicht mehr machen würde.
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