"In Estland will keiner von Putin gerettet werden"
Der Domberg, Wahrzeichen der estnischen Hauptstadt Tallinn. Zu seinen Füßen breitet sich der mittelalterliche Kern der einstigen Hansestadt aus. Auf dem Berg selbst steht das neo-klassizistische Stenbock House, der Sitz der Regierung. Dienstagabend traf Bundespräsident Heinz Fischer hier den Premier des baltischen EU- und NATO-Staats, Taavi Roivas (34). Der KURIER traf den jüngsten Regierungschef der EU, der morgen, Donnerstag, 100 Tage im Amt ist, im Anschluss zum Gespräch.
KURIER: Die baltischen Staaten beobachten die Krise in der Ukraine als frühere Sowjetrepubliken sehr genau. Kann der Konflikt noch gelöst werden?
Taavi Roivas: Der Europäische Rat hat klar gesagt, welche Deeskalationsschritte er erwartet: Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze und Fortschritte beim Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Ich hoffe wirklich, dass das gelingt. Ansonsten braucht es weitere Sanktionen gegen Russland. Es wären aber alle glücklicher, wenn das nicht nötig wäre. Was wir bisher sehen, ist aber weiter besorgniserregend.
Beunruhigt die Krise die Esten?
Fühlen Sie sich bedroht?
Estland ist ein NATO-Land. Wir sehen keine unmittelbare Bedrohung und es ist klar, dass die NATO, die bei Weitem das stärkste Militärbündnis der Welt ist, ihre Mitglieder schützt.
In Estland gibt es eine große russisch-stämmige Bevölkerungsgruppe (26 Prozent), deren Angehörige zu großen Teilen keine estnischen, aber auch keine russischen Staatsbürger sind. Gibt es separatistische Tendenzen unter diesen so genannten "Nicht-Bürgern"?
Nein. In Estland will keiner von Kremlchef Putin gerettet werden. Die Russen fühlen sich zu Hause. Sie sind Teil des sozioökonomischen Erfolges, dank dem wir einen viel höheren Lebensstandard haben als in Russland oder der Ukraine. Estland hat vor vielen Jahren einen klaren europäischen Weg eingeschlagen, der uns 2004 zu EU und NATO und vor drei Jahren in die Eurozone geführt hat. Die Zustimmung zur EU ist in Estland durchwegs höher als in den anderen EU-Ländern, normalerweise um die 80 Prozent.
Warum wollen dann immer noch so viele Russisch-Stämmige keinen estnischen Pass?
Es bewerben sich immer mehr darum. In meiner Amtszeit waren es rund 500. Es gibt aber Leute, die nicht wollen, etwa ältere aus der zweiten Generation, die sehen keinen Bedarf dafür. Sie haben alle Rechte von Staatsbürgern, nur bei Parlamentswahlen dürfen sie nicht wählen, bei Lokalwahlen schon. Sie können sich in der EU frei bewegen. Unsere Tür ist offen, wir zwingen aber niemanden, Staatsbürger zu werden. Kinder, die hier geboren sind, können ohnehin Staatsbürger werden. Die meisten Eltern beantragen das auch.
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz ist 27 Jahre alt, Sie sind 34. Welchen besonderen Herausforderungen stellen sich junge Politiker?
Die Herausforderungen sind dieselben wie die für ältere Politiker. Ich bin seit 15 Jahren in der Politik, das ist sehr lang. In Estland beginnt man früh zu arbeiten, während des Studiums, was etwa in Südeuropa anders ist. Dadurch haben Leute in ihren 30ern schon viel Berufserfahrung.
Estland hat die Wirtschaftskrise gut bewältigt. Wie geht es weiter?
Estland hatte schon 2011 hohe Wachstumsraten, wir waren unter den ersten, die es aus der Krise schafften. Das gelang, weil wir die Krise für Strukturreformen genutzt, das Unternehmensklima verbessert und die Kosten für die Verwaltung reduziert haben, durch Lohnkürzungen und Stellenabbau. Der Euro-Beitritt 2011 hat uns einen zusätzlichen Schub verpasst. Jetzt stehen wir vor derselben Herausforderung wie der Rest Europas. Unsere Wirtschaft ist sehr vom Außenhandel abhängig und wir sind besorgt, wie andere Länder mit ihren hohen Schulden umgehen.
Wie sieht’s da bei Estland aus? Estland hat wie andere Länder in der nordischen Region relativ wenig Schulden. Wir haben die niedrigsten in der EU, zehn Prozent des BIP. Wir haben großes Potenzial, weil wir nicht große Steuersummen für das Zurückzahlen von Schulden brauchen.
Mit 34 Jahren an die Spitze
Taavi Roivas wurde am 26. September 1979 in Tallinn geboren. Bei der Unabhängigkeit Estlands von Moskau 1991 war er also noch ein Kind. Roivas studierte Außenhandel und begann 1998 seine Polit-Karriere bei der wirtschaftsliberalen Reformpartei. Er war Berater mehrerer Minister und auch seines Vorgängers als Premier, Andrus Ansip. 2012 wurde Roivas Sozialminister. Nach Ansips Rücktritt wurde er am 26. März 2014 Regierungschef. Er führt eine Koalition der Reformpartei und den Sozialdemokraten.
Privatleben
Roivas ist mit der estnischen Sängerin Luisa Värk (27) liiert, die durch "Estland sucht den Superstar" und eine eigene Kochsendung im Fernsehen bekannt wurde. Die beiden haben eine Tochter: Miina Rihanna (5).
"Gute Diktatur" – der Zwischenruf des russischen Präsidenten, während er vom österreichischen Wirtschaftskammerpräsidenten Christoph Leitl in der Vorwoche in Wien begrüßt wurde, ist bereits legendär. Beim Medien-Sommerempfang Leitls Montagabend fehlte der Sager bei keiner Gesprächsrunde. Leitl verteidigte dabei die russisch-österreichische Achse (offizieller Grund für Putins Besuch war ja der South-Stream-Vertrag). Es gehe um völkerverbindende Projekte, Österreich sehe es als Aufgabe, den Dialog zwischen Russland und Europa zu fördern, sagte er in seiner Ansprache.
"Es stehen nicht Werte gegen Wirtschaft, sondern Wirtschaft steht für Werte. Wenn man Wladimir Putin nicht treffen darf, darf ich dann auch im Herbst nicht mit einer Wirtschaftsdelegation nach China fahren? Darf man dann in den Iran fahren? Nicht in der Abgrenzung, sondern im Dialog liegt unsere Chance." Er, Leitl, habe Hochachtung vor Bundespräsident Fischer, der versprochen habe, die Kommunikationskanäle zu Russland offen zu halten.
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