Syrien: UNICEF findet für Kinder-Morden keine Worte mehr
Mit einer ungewöhnlichen Erklärung hat das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF die heftigen Angriffe auf das syrische Rebellengebiet Ost-Ghouta angeprangert. Die Organisation veröffentlichte am Dienstag eine weitgehend leere Mitteilung. Darin wird UNICEF-Regionaldirektor Geert Cappelaere mit einem einzigen Satz zitiert:
"Keine Worte werden den getöteten Kindern, ihren Müttern, ihren Vätern und ihren Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren lassen."
Am Ende heißt es dann in einer Fußnote: "Wir geben diese leere Mitteilung heraus. Wir haben nicht länger die Worte, um das Leiden der Kinder und unsere Empörung zu beschreiben. Haben diejenigen, die dieses Leiden verursachen, noch Worte, um ihre barbarischen Taten zu rechtfertigen?" Bei den Angriffen auf Ost-Ghouta sind Aktivisten zufolge in weniger als 48 Stunden fast 200 Zivilisten getötet worden.
Wieder etwa 50 Tote am Dienstag
Bei neuen heftigen Angriffen auf das syrische Rebellengebiet Ost-Ghouta nahe Damaskus sind den zweiten Tag in Folge Dutzende Zivilisten ums Leben gekommen. Die Syrische "Beobachtungsstelle für Menschenrechte" meldete am Dienstag, seit der Früh seien in der belagerten Region rund 50 Menschen getötet worden, darunter 13 Kinder.
Das Gebiet sei von Jets und Hubschraubern aus der Luft und mit Artillerie bombardiert worden. Innerhalb von weniger als 48 Stunden seien damit in Ost-Ghouta fast 200 Menschen ums Leben gekommen, erklärte die oppositionsnahe Beobachtungsstelle. Die in Großbritannien ansässige Organisation bezieht ihre Informationen von einem Netzwerk von Aktivisten in Syrien. Ihre Angaben können von unabhängiger Seite nur schwer überprüft werden.
Ost-Ghuta, die letzte Rebellenhochburg in der Nähe von Damaskus, wird überwiegend von zwei Islamistengruppen kontrolliert, an einzelnen Stellen ist jedoch auch das Jihadistenbündnis Hajat Tahrir al-Sham aktiv. Die syrische Regierung will die Kontrolle über das Gebiet zurückerlangen, von dem aus immer wieder Raketen und Mörsergranaten auf die Hauptstadt gefeuert werden.
Ost-Ghuta ist seit Monaten von Regierungstruppen eingeschlossen. Rund 400.000 Menschen sind dort fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Helfer berichten von einer dramatischen humanitären Lage. Über Wochen durften keine Hilfslieferungen in das Gebiet.
Das habe zu einem schlimmen Mangel an Nahrungsmitteln geführt, sagte der regionale UNO-Nothilfekoordinator, Panos Moumtzis. Die Raten an Mangelernährung hätten ein beispielloses Niveau erreicht. "Die humanitäre Lage der Zivilisten in Ost-Ghouta ist dabei, außer Kontrolle zu geraten", erklärte Moumtzis weiter.
Die Türkei hat sich unterdessen entschlossen gezeigt, ihre Offensive in Nordsyrien gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) bis nach Afrin-Stadt zu tragen. Die türkische Armee werde "in den kommenden Tagen" mit der Belagerung des Stadtzentrums von Afrin beginnen, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstag in Ankara an. Die türkische Armee geht seit Jänner gegen die YPG in der Region Afrin vor, stößt dabei aber auf erbitterten Widerstand.
Einen Monat nach Beginn der "Operation Olivenzweig" haben die türkische Armee und verbündete syrische Milizen laut Erdogan "300 Quadratkilometer" der Region Afrin erobert. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte brachten die Streitkräfte jedoch erst 35 grenznahe Dörfer unter ihre Kontrolle.
Erdogan rechtfertigte das langsame Voranschreiten der Offensive damit, dass die Armee ihre Truppen nicht in Gefahr bringen wolle und große "Rücksicht auf Zivilisten" nehme. Es sei nicht das Ziel, "alles vor uns Liegende zu verbrennen und zu zerstören", sagte der Präsident. "Wir sind dort, um ein sicheres Umfeld zu schaffen" für die Rückkehr von Flüchtlingen aus der Türkei.
Experten vermuten erhebliche militärische Schwierigkeiten der Türkei. Die Politologin Jana Jabbour sagte, es müsse auf beiden Seiten zwischen politischer Rhetorik und Propaganda und der Realität vor Ort unterschieden werden: Die Türken hätte Mühe, vorwärts zu kommen wegen der Kampfkraft und der Organisation der YPG, sagte die Professorin der Hochschule Sciences Po in Paris.
Nach Angaben der oppositionsnahen Beobachtungsstelle wurden bisher 240 protürkische Rebellen, knapp 200 kurdische Milizionäre und 94 Zivilisten getötet. Für Medien sind diese Angaben kaum zu überprüfen. Ankara weist Berichte über tote Zivilisten vehement zurück. Nach offiziellen Angaben sind bei den Gefechten bisher 32 türkische Soldaten zu Tode gekommen.
Syrische Staatsmedien meldeten am Montag, dass Regierungstruppen auf dem Weg nach Afrin seien, um den Widerstand gegen die Türkei zu unterstützen. In der Region hat Damaskus seit 2012 keine Truppen mehr stationiert. Erdogan besprach diese Entwicklung am Montagabend mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin und dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani.
Die syrischen Kurden warfen Russland vor, das Abkommen mit der syrischen Regierung über die Entsendung von Truppen in den Norden des Landes zu verhindern. Die Verhandlungen mit der syrischen Regierung liefen seit einer Woche, sagte Sulaiman Jafar, Mitglied im Lokalrat der von Kurden kontrollierten Region Afrin, am Dienstag. Die Russen hätten ihnen jedoch Steine in den Weg gelegt. "Wir haben die zuverlässige Information, dass Russland der Türkei grünes Licht gegeben hat, um alles in Afrin zu zerstören", erklärte Jafar.
Die Türkei hatte vor einem Monat eine Offensive auf Afrin begonnen, das von der Kurdenmiliz YPG kontrolliert wird. Die Türkei sieht in der Miliz den syrischen Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK und bekämpft sie. Mit der Entsendung syrischer Regierungstruppen wollen die Kurden die Offensive stoppen. Die Türkei warnte Syriens am Regierung am Montag vor eine solchen Hilfe.
Ambivalentes Verhältnis: Regierung und Kurden
Russland ist in Syriens Bürgerkrieg neben dem Iran der wichtigste Verbündete der Regierung. Die Türkei unterstützt die Rebellen. Im vergangenen Jahr hatten sich die drei Schutzmächte auf so genannte Deeskalationszonen in einigen Gebieten des Landes geeinigt. Das Verhältnis der syrischen Regierung zu den Kurden im Norden ist ambivalent. Im Bürgerkrieg haben sie weitgehend direkte militärische Zusammenstöße vermieden und zeitweise gemeinsam gegen Extremistengruppen gekämpft. Vereinzelt kam es aber auch zu Kampfhandlungen zwischen ihnen. Unterschiedliche Vorstellungen haben sie über die Zukunft Syriens.
Präsident Bashar al-Assad will das gesamte Land wieder unter seine Kontrolle bringen. Die Kurden beherrschen inzwischen aber große Gebiete im Norden des Landes und wollen diese nicht aufgeben. Dies ist der Türkei ein Dorn im Auge. Die Türkei betrachtet die YPG als Terrororganisation, doch unterstützen NATO-Partner USA sie im Kampf gegen die Jihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) mit Waffen.
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