30 Jahre Völkermord von Srebrenica: „Nichts kann zurückbringen, was wir hatten“

Eine Frau trauert in der Gedenkstätte in Potočari.
Amra Begić war 13 Jahre alt, als 1992 nach Slowenien und Kroatien auch in Bosnien-Herzegowina der Krieg ausbrach. Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten unter der Führung von Militärchef Ratko Mladić ihre Heimatstadt Srebrenica ein. Unter den Tausenden muslimischen Männern und Buben, die in den Tagen danach umgebracht wurden: Begićs Vater, Großvater, 26 Cousins und ihr bester Freund. Heute ist sie stellvertretende Direktorin der Srebrenica-Gedenkstätte in Potočari.
KURIER: Im Juli 1995 waren Sie nicht in Srebrenica, doch viele Ihrer Verwandten haben den Genozid nicht überlebt. Woran können Sie sich aus dieser Zeit erinnern?
Begić: Vor dem Krieg hatten wir ein perfektes Leben. Der Moment, an dem mir klar wurde, dass etwas Schlimmes passiert: Als mein Vater mich und meine Schwestern nach Tuzla gebracht hat. Wir sind im Bus gesessen, ohne meine Eltern. Ich habe aus dem Fenster geschaut und meinen Vater weinen sehen – zum allerersten Mal. Danach habe ich ihn nie wieder lebend gesehen. Die Erinnerungen sind noch immer frisch, in der Arbeit befasse ich mich ja dauernd damit. Auch all meine Kollegen haben damals jemanden verloren. Wir wollen die Gedanken an sie und die anderen Opfer erhalten, beschützen, speichern.

Amra Begić ist stellvertretende Direktorin der Srebrenica-Gedenkstätte in Potočari, wo mehr als 6.500 Opfer begraben liegen und die Namen von 1.800 weiteren eingraviert sind.
Sie sind erst Jahre später nach Srebrenica zurückgekehrt – auch weil Sie da sein wollten, wenn Ihr Vater identifiziert wird. Das ist 2008 passiert. Warum ist es so wichtig, so lange nach den Vermissten zu suchen, bis alle gefunden sind?
Wir konnten nach dem Krieg nicht glauben, dass die Vermissten nicht zurückkommen würden. Wir dachten, dass jemand sie festhalten und man sie noch finden würde. Stattdessen erfuhren wir von Massengräbern. Manche werden bis heute versteckt. Beim Identifizieren geht es darum, zu verstehen, was wo und wie mit den Vermissten passiert ist. Und natürlich darum, sie begraben zu können.
Die UN haben 2024 einen internationalen Srebrenica-Gedenktag eingeführt – und die Geschehnisse offiziell als Genozid anerkannt. Was bedeutet das für Sie?
Das war wichtig für uns. Nichts kann uns zurückbringen, was wir einst hatten. Aber wenn die Welt ein besserer Ort sein soll, müssen wir solche Grausamkeiten künftig vermeiden. Meine Kollegen und ich versuchen, die Fakten dafür bereitzustellen, weil wir wollen, dass unsere Kinder auf diesen basierend über den Genozid lernen – auf einfache Art und Weise.
Ab dem 11. Juli 1995 töteten bosnische Serben in Srebrenica – einer bosniakischen Enklave in einer überwiegend von Serben bewohnten Region – im Zuge der Jugoslawienkriege mehr als 8.000 Bosniaken, vor allem Männer. Frauen wurden vergewaltigt. Das Massaker gilt als das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Blauhelm-Soldaten der UNO hatten in Potočari einen Stützpunkt. Hunderte Bosniaken suchten dort Schutz, den man vielen aber nicht gewährte.
Beendet wurde der 3,5-jährige Bosnienkrieg mit dem Dayton-Vertrag. Seither ist Bosnien-Herzegowina in zwei weitgehend autonome Landesteile aufgeteilt: die bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska.
Die Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić gelten als Hauptverantwortliche für den Genozid. Sie sitzen nach wie vor im Gefängnis.
Der serbische Präsident Vučić wollte den UN-Beschluss verhindern. Srebrenica liegt in der Republika Srpska, dem serbischen Landesteil. Wie viel politischem Druck ist das Srebrenica Memorial Center denn ausgesetzt?
Ich will nicht über Vučić reden. Direkten politischen Druck auf uns gibt es keinen. Aber manchmal müssen wir ernsthaft über unsere Sicherheit nachdenken. Im Februar etwa haben wir das Gedenkzentrum für ein paar Wochen geschlossen, als Dodiks (Präsident der Republika Srpska, Anm.) Urteil verkündet wurde. Wir sind zurück. Aber wir benötigen definitiv mehr Mitarbeiter mit Dauerverträgen, wofür wir staatliche Gelder bräuchten, die wir nicht kriegen. Gleichzeitig gibt es heute wieder mehr Menschen in der Region, die den Genozid leugnen, um ihre politischen Meinungen zu rechtfertigen.
Der österreichische Balkan-Experte Vedran Džihić hat dem KURIER vergangenes Jahr über die anhaltenden Spannungen in der Region gesagt: „Die Vergangenheitsaufarbeitung ist nicht gelungen. Jede Seite sieht sich als Opfer und aus der jeweiligen Nationalperspektive gibt es kaum Täter.“ Wie kann das überwunden werden?
Im Gedenkzentrum haben wir einen Ausschuss für Dialog gegründet, in dem auch Angehörige der Genozid-Opfer sind. Sie haben z. B. das Konzentrationslager Jasenovac (im heutigen Kroatien, Anm.) besucht, in dem die meisten Opfer Serben waren. Wir hatten aber zum Beispiel noch nie Schulkinder oder Universitätsstudenten aus der Republika Srpska bei uns im Gedenkzentrum zu Besuch. Ich hoffe wirklich, dass sie irgendwann kommen.
Wieso kommen sie nicht?
Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es noch zu früh, nach dem Holocaust hat es auch Jahrzehnte gedauert, bis so etwas möglich war. Wir müssen ihnen aber jedenfalls weiter die Möglichkeit geben.
Der Genozid ist 30 Jahre her. Viele jener, die danach geboren sind, sind also heute erwachsen. Was bedeutet das für die Erinnerungsarbeit?
Ich habe versucht, meinen Kindern beizubringen, nicht über die Namen anderer nachzudenken und dafür offen zu sein, sich mit allen, auch mit Serben, anzufreunden – in der Schule, beim Musikmachen, im Fußballverein. Bis vor Kurzem wusste ich jedoch nicht, was genau sie über den Genozid denken, bis meine Tochter bei einem Film darüber mitgearbeitet hat. Es geht darin um Menschen wie sie, die nach dem Krieg geboren sind. Sie haben so viele Fragen. Vor allem, warum sie so wenige Verwandte haben. Ich wollte sie beschützen, habe ihnen erst später alles erzählt. Es gibt keine schöne Art und Weise, einen Genozid zu erklären. Aber wir müssen es tun.
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