Ein Jahr nach der Tragödie von Novi Sad: "Das Regime hat ein Ablaufdatum"

Students from Novi Pazar arrive in Belgrade as part of a journey leading up to a major protest in Novi Sad
Vor einem Jahr stürzte in Novi Sad ein Bahnhofsvordach ein und tötete 16 Menschen. Die Tragödie löste die größten Proteste in der jüngeren Geschichte Serbien aus. Wo steht die Bewegung heute?

In Belgrad wurden sie mit Feuerwerken empfangen. Auch heute, wenn sie ihr Ziel erreichen, werden die Massen sie lautstark willkommen heißen: 15 Tage lang waren Hunderte Studierende aus allen Teilen Serbiens zu Fuß unterwegs, teils Hunderte Kilometer. Sie marschierten in Richtung Novi Sad, der zweitgrößten Stadt des Balkanlandes.   

Am 1. November 2024 stürzte dort das Vordach des Bahnhofs ein; 16 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Tragödie löste eine gigantische Protestwelle gegen Präsident Aleksandar Vučić  und seine regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) aus. Allein seit Mitte Februar 2025 kam es laut der NGO CRTA zu mehr als 11.568 Protestaktionen im ganzen Land, darunter Straßenblockaden und besetzte Universitäten.

Die Demonstrierenden machen, ebenso wie unabhängige Experten, Korruption und Schlamperei für den Einsturz verantwortlich. Das Bahnhofsgebäude, das Teil von Chinas neuer Seidenstraße ist, war schließlich erst kurz zuvor renoviert worden. Es laufen Ermittlungen gegen mehr als ein Dutzend Personen, darunter auch zwei ehemalige Minister. Anklagen gegen die beiden blieben bisher aus.

Breite Unterstützung

„Die Bewegung hat schon jetzt eine eindrucksvolle Bilanz“, sagt Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik zum KURIER. Zwar seien Vučićs Machtpfeiler (Sicherheitsapparat, Institutionen, Medien, etc.) bislang im Kern noch intakt. „Aber sie bröckeln an unterschiedlichen Ecken und Enden.“

Den Studierenden, dem Kern des Widerstands, sei es im vergangenen Jahr gelungen, der festgefahrenen Gesellschaft Serbiens wieder eine Zukunftsperspektive zu geben, resümiert der Balkan-Experte. Sie organisierten sich basisdemokratisch, hielten Versammlungen ab, erstellten Wahllisten und verlegten Proteste gezielt in ländliche Gebiete, um dort den direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu suchen. 

Damit konnten sie eine Alternative zum autoritären System Vučić aufzeigen. Heute genießt die Bewegung über Altersgrenzen, Religionen und Ethnien hinweg breite Unterstützung. Džihić: „Eine große Mehrheit der Menschen hat die Angst vor dem Regime verloren.“ 

Wie verunsichert der Machtapparat dadurch ist, zeigt seine widersprüchliche Reaktion: Der Präsident und seine Partei wandelten in den vergangenen Monaten zwischen Beschwichtigung, subtiler und offener Gewalt - etwa durch der SNS nahestehende Schlägertrupps. Seit November kam es laut einer Zählung von CRTA zu mindestens 1.200 Festnahmen und Inhaftierungen.    

FILES-SERBIA-ACCIDENT-ANNIVERSARY

Der bislang größte Protest fand am 15. März in Belgrad statt.

Druck aus Brüssel

Auch die serbische Diaspora baute zunehmend Druck auf, etwa auf Brüssel. Schließlich ist Serbien seit 2012 EU-Beitrittskandidat. Bei ihrem jüngsten Besuch in Belgrad ermahnte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen Präsident Vučić auch ungewöhnlich scharf. 

Das EU-Parlament legte kurz darauf mit seiner bisher schärfsten Resolution nach. Die Forderungen decken sich weitgehend mit jenen der Protestbewegung: lückenlose Aufklärung des Unfalls in Novi Sad, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Wahrung der Menschenrechte.

Seit einigen Monaten fordert die Protestbewegung auch vorgezogene Wahlen, was Vučić lange ausgeschlossen hat. Inzwischen spricht er von möglichen Wahlen im kommenden Jahr. Eine Studentenliste, die noch nicht offiziell vorliegt, würde Umfragen zufolge dabei als klare Siegerin vor seiner regierenden SNS hervorgehen.  

Mehrere Szenarien möglich

Wenn es so weit kommt, so Experte Džihić, hängt alles davon ab, ob die Wahlen frei und fair ablaufen können. Möglich sei aber auch ein anderes Szenario, nämlich ein gewaltvoller, eruptiver Ausbruch aus dem Zwischenstadium, in dem sich Serbien gerade befinde. Heißt: Das Regime setzt auf volle Repression, erzwingt eine harte Gegenreaktion. „Das wäre ein Szenario des Chaos. Wie bei Milošević im Jahr 2000 könnte das Regime schnell verschwinden oder es könnte eine fortgesetzte Welle der Gewalt geben. Ausgang ungewiss.“ 

Eine weitere Möglichkeit ist, dass das Regime mit unterschiedlichen Methoden versucht, Zeit zu gewinnen, und darauf setzt, dass die Bewegung Energie verliert. „Da gäbe es dann im Verlauf der nächsten ein, zwei Jahre ein Auf und Ab“, so Džihić. Aufgrund der vielen strukturellen Verschiebungen im vergangenen Jahr könne sich das Regime aber nicht mehr lange an der Macht halten, meint er. „Wenn die Stimmung einmal derart gekippt ist, ist ganz klar, dass es ein Ablaufdatum gibt. “

Serbian students march to Novi Sad on anniversary of deadly station collapse in Belgrade

Studierende marschierten in den vergangenen Wochen aus vielen Teilen des Landes in Richtung Novi Sad.

Entscheidend könnte auch sein, wie groß die morgige Kundgebung in Novi Sad ausfällt. Laut Dušan Spasojević von der Universität Belgrad könnte sie vergleichbar mit jener vom 15. März sein, als 300.000 Menschen in Belgrad auf die Straße gingen. 

Das Regime setzt daher bereits im Vorfeld alles daran, dies zu unterbinden: Straßen nach Novi Sad werden wegen „Bauarbeiten“ gesperrt, Bahnverbindungen unterbrochen. In Notfall werde man dann eben den Weg über die Felder wählen, kündigten die marschierenden Studierenden an.

Kommentare