Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Trail of rocket smoke is seen in the sky over Kyiv
Der KURIER veröffentlicht die Texte von drei Autoren und drei Autorinnen. Sie dokumentieren die Brutalitäten des Krieges.
Von Uwe Mauch

Nachrichten aus der Ukraine, die einem sofort nahe gehen: Schilderungen aus dem Krieg, intime Befunde der Angst. Blankes Entsetzen, riesige Enttäuschung, Wut, ja, auch Hass. Sorge um das Leben der Liebsten, auch um das eigene. Analysen aus der Emotion, die für sich sprechen sollen. Sechs verzweifelte Hilferufe.

Die KURIER-Redaktion hat sich entschlossen, drei Autorinnen und drei Autoren zu Wort kommen zu lassen. Sie haben diese exklusiven Texte verfasst, während ihr Land, ihre Existenz zeitgleich in Schutt und Asche gebombt wird, während es jederzeit auch sie hätte treffen können.

Vergesst nicht auf uns!

Sie haben unser Angebot, ohne lange nachzudenken, angenommen, auch um der freien Welt auszurichten: Wir leben noch, vergesst nicht auf uns! Den Originalfassungen (zwei auf Russisch, vier auf Ukrainisch) ist jeweils auch die englische Übersetzung hinzugefügt.

Sie wissen nicht, sagen sie, was ihnen der morgige Tag bringen wird. Wir wissen nicht einmal, wie es ihnen heute geht. Passt bitte auf euch auf!

Besonderer Dank gilt dem ukrainisch-stämmigen und in Leipzig lebenden Lehrer und Übersetzer Pavel Gitin, der trotz vieler Verpflichtungen und großer Sorge in dieser Woche alle sechs Texte aus den Originalsprachen übersetzt hat. Eine große Hilfe war auch seine Frau, die Autorin Svetlana Lavochkina, die ihre Kollegen zur Mitarbeit gewonnen hat.

Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Lyuba Yakimchuk brachte  ihre Kinder aus der Stadt

In Kiew:

Vom Brot für territoriale Verteidiger und vom Benzin für „Kiewer Cocktails“

Ich bin im Norden von Kiew, am Stadtrand. Genau aus dieser Richtung sind seit Tagen die russischen Landstreitkräfte  im Anmarsch. Also fliegen alle Grad-Raketen über uns hinweg. Außerdem „arbeitet“ in unserer Nähe die Luftwaffe.

Wir wohnen in einem Haus mit eisernen Fensterläden, was sehr hilft. Wir haben das Haus erst vor Kurzem gekauft, wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass uns die Fensterläden einmal nützlich sein werden, wollten sie schon demontieren. Jetzt schützen sie uns.

Am meisten waren wir bisher um die Sicherheit unserer Kinder besorgt. Heute haben wir sie mit der Hilfe von Freunden aus der Stadt rausbringen können. Im Moment sind sie in Sicherheit, falls man überhaupt von Sicherheit in der Ukraine sprechen kann. Hier in Kiew ist es jedenfalls richtig „heiß“: Es gibt ständig Artilleriebeschüsse und Straßenkämpfe.

Derzeit ist unsere einzige Sorge, mehr Benzin für die Molotowcocktails aufzutreiben. Wir nennen sie hier „Kiewer Cocktails“. Sie werden für die Straßenkämpfe benötigt. Vor dem Krieg haben mein Mann und ich ein bisschen vorgesorgt und 80 Liter Benzin gekauft. Doch dieses Benzin ist jetzt fast komplett  aufgebraucht. Auf den Tankstellen gibt es schon lange kein Benzin mehr, daher müssen wir jetzt neben Waffen auch Sprit importieren.

Morgen werde ich Brot für die Territoriale Verteidigung backen, weil es kein Brot mehr in Kiewer Läden gibt, und wir haben auch etwas Mehl vor dem Krieg eingekauft.

Ihre Bitte an die Welt

Russland hat Atomwaffen, mit denen uns und der Welt gedroht wird, also müssen wir uns vereinen. Im Moment muss man Putin mit allen Mitteln isolieren. Wir brauchen wirklich jede Hilfe. Das können Waffen sein oder Luftabwehrsysteme.

Besonders gut wäre es, das mobile Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ zu besitzen, das uns Israel vor dem Krieg nicht verkaufen wollte. Mit ihm könnte man unseren Himmel vor Luftangriffen abschirmen, unter denen wir derzeit am meisten leiden.

Aber jeder kann uns jetzt unterstützen, zum Beispiel mit einer Geldspende. Es nützen 200 Euro, und 20 Euro nützen auch. Jede Spende kann uns vor der russischen Okkupation und die Welt vor dem dritten Weltkrieg retten.

Lyuba Yakimchuk wurde 1985 in der Stadt Pervomaisk in der Oblast Mykolajiw geboren. Sie arbeitet heute als Dichterin, als Drehbuchautorin und als Journalistin vorwiegend in Kiew. Zuletzt hat sie sich schweren Herzens von ihren eigenen Kindern getrennt.

Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Arkady Shtypel hatte eine Vorahnung und fuhr aus Moskau heim

In Odessa:

Von der Hoffnung eines weit gereisten Mannes

Ich bin derzeit in Odessa,  am Schwarzen Meer. Eigentlich wohne ich seit Langem in Moskau. Bin aber ukrainischer Herkunft, verstehe mich auch als Ukrainer. In der Vorahnung der Ereignisse bin ich hergefahren. Am meisten beunruhigen mich die aktuellen Lageberichte. Ich hoffe, dass die Ukraine den Angriffen standhält.

Seine Bitte an die Welt

Helfen Sie der Ukraine!

Arkady Shtypel  wurde 1944 in Katta-Kurgan in der usbekischen Provinz Samarkand geboren. Dichter, Übersetzer.

Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Olena Zadorozhna schreibt jetzt an einem anderen Narrativ

In Kiew:

Vom Arbeiten an der Informationsfront

Ich bin derzeit in einem Randgebiet der Stadt, nahe an einer Verteidigungslinie. Bei uns ist es soweit ungefährlich, obwohl wir oft Explosionen hören. Weil ich mich beruflich auch mit PR und Kommunikation beschäftige, bin ich an der Informationsfront und teilweise bei der Logistik im Einsatz.

Gemeinsam mit vielen anderen Volontären füllen wir Telegram-Kanäle mit aktuellen Informationen über das Geschehen um uns herum. Wir verwenden nur geprüfte Fakten und reale Videoaufnahmen.

Wir schreiben auf Russisch, und zielen damit auf russische Leser ab, weil wir Putins Propagandamauer durchbrechen müssen, um zu zeigen, dass es  kein „Kampf gegen Nazis“ ist, wie die russische Propaganda verbreitet, sondern der Versuch, die Ukraine mithilfe des Militärs zu annektieren.

Schuld an diesem Krieg sind alle russischen Bürger, die bisher nichts unternommen haben, um etwas zu ändern. Auf ihrem Schweigen ist jenes Monstrum gewachsen, das jetzt die ganze Welt bedroht.

Am meisten fürchte ich um unsere Leute, Kämpfer, Freiwillige, territoriale Verteidiger, Zivilisten, die unter Beschuss verharren. Wir sehen Zustimmung aus der ganzen Welt. Wir sind ungebrochen. Aber ich will, dass wir den Sieg alle gemeinsam feiern, lebendig.

Ihre Bitte an die Welt

Ich möchte danken für die Unterstützung und für das Verständnis. Ich möchte bitten, über alle möglichen Kanäle die Information, was wirklich passiert, unter russischen Bekannten zu verbreiten. Wir kämpfen um unser Land, aber davon, was bei uns gerade passiert, hängt ab, wie die Welt von morgen aussieht. Ohne Übertreibung.

Olena Zadorozhna wurde im Jahr 1984 in der Stadt Poltava in der Zentralukraine geboren. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Zwei Bücher hat sie bisher geschrieben: „Die Pfade der Eremiten“ sowie „Der es geschafft hat, wiederbelebtzu werden“.

Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Maria Galina fürchtet die russischen Fallschirmspringer

In Odessa:

Vom Ende einer wunderbaren europäischen Stadt

Wir sind jetzt wieder in Odessa. Hier leben meine nahen Verwandten, hier habe ich auch meine Jugend verbracht. Ich kann nicht behaupten, dass es für mich eine glückliche Zeit war. Übrigens ist die Jugend manchmal ziemlich tragisch. Jedenfalls konnte ich Odessa nicht lieb gewinnen.

Aber vor einem Jahr sind wir (ihr Mann und sie, Anm.) nach Odessa zurückgekehrt. Und ich sah mit Erstaunen, dass sich Odessa in eine wunderbare, eine komfortable europäische Stadt verwandelt hat. Ein wenig heruntergekommen vielleicht. Aber vor allem ist es auch eine zweisprachige Stadt.

Wie es mir in diesen Tagen persönlich geht? Nun, es geht mir wie allen anderen hier auch. Mir ist bange. Ich konnte mir nie im Leben vorstellen, dass ich einmal Angst vor russischen Fallschirmspringern und russischen Beschüssen haben werde. Aber die Angst ist da.

Ihre Bitte an die Welt

Ich bitte heute alle, die können: Helft der Ukraine, verbreitet diese Information! Russland führt einen ungerechten Krieg. Die Ukraine verteidigt sich.

Maria Galina wurde im Jahr 1958 in der Stadt Tver (im Westen Russlands) geboren. Dichterin, Schriftstellerin und Übersetzerin.

Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Viacheslav Huk fordert die Aufnahme der Ukraine in die EU

Irgendwo, vielleicht auf der Krim:

Vom Trauma zum Traum

Ich bin in der Ukraine. Die Krim ist mein Schmerz, weil ich von dort bin. Umso mehr  beunruhigt mich, dass in den Nachrichten Stille herrscht über unsere Halbinsel, die durch russische Eindringlinge annektiert worden ist.

Meiner Meinung nach ist die Beendigung dieses Krieges erst dann möglich, wenn die Ukraine die volle Kontrolle über die Krim wiedererlangt, sowie auch über Luganskaja und Donezkaja Oblast.

Zudem schmerzt mich die Stadt Königsberg in Ostpreußen, die schon lange von den Russen okkupiert, vernichtet, verunstaltet und in die Fake-Stadt Kaliningrad verwandelt wurde, wie ein Kleinkind, das vom Körper Mutter-Deutschlands weggerissen wurde. Deswegen glaube ich auch, dass die vollständige Wiedervereinigung Deutschlands noch nicht abgeschlossen ist. Und daran sollte man arbeiten auf der höchsten diplomatischen Ebene. Zu diesem Thema habe ich meinen Roman „Simferopol – Virginii“ geschrieben, der mal in Israel verlegt wurde.

Seine Bitte an die Welt

Unser Land, die Ukraine, erweist sich in diesen Tagen als mächtige Mauer zwischen der Welt des Bösen und der Gewalt, Russland, und der Welt der Demokratie, Europa.

Daher hätte es die Ukraine meiner Meinung nach schon längst verdient, in der gemeinsamen europäischen Heimat, in  der Europäischen Union zu sein. Deswegen sollen wirklich alle Institutionen, von denen diese Entscheidung abhängig ist, einen vereinten politischen Willen zeigen und unser Land in die EU aufnehmen.

Viacheslav Huk wurde 1974 in der Ukraine geboren. Er gilt in seiner Heimat als moderner Poet, Autor und Essayist.

Sechs dramatische Appelle aus den Todeszonen der Ukraine

Sergij Pantjuk patrouilliert jetzt in seiner eigenen Stadt

In Kiew:

Vom Aufspüren der Saboteure im 126. Bataillon

Ab heute bin ich dem Kader des 126. Bataillons der Territorialen Verteidigung von Kiew zugeteilt. Unsere Aufgabe wird das Patrouillieren auf dem uns anvertrauten Territorium sein, die Ermittlung von Saboteuren sowie von Personen, die für das russische Artilleriefeuer Ziele in der Stadt markieren. Auch sollen wir in unserem Territorium kontrollieren, ob es Markierungen gibt, die für den Beschuss aus Flugzeugen des Feindes dienen sollen.

Zwei Dinge tun mir weh: Erstens, dass überall Zivilisten leiden, unter unerwarteten Raketenbeschüssen und Fliegerbomben. Darunter sind alte Menschen, Frauen und Kinder. Es ist schrecklich. Zweitens, dass manche Männer, anstatt ihre Heimat zu verteidigen, über die Grenze fliehen. Aber ob solche „Verteidiger“ hier gebraucht werden?

Seine Bitte an die Welt

Ich will allen sagen: Ein gigantisches, aggressives Land hat uns heimtückisch bereits im Jahr 2014 überfallen. Diese Aggression jetzt ist nur eine Fortschreibung der vorhergehenden.

Wenn sich die Welt nicht vereinigt und Putins Russland nicht vernichtet, dann werden sein Appetit und seine Aggression nur weiter wachsen und sich gegen Europa und die Länder anderer Regionen richten. Deswegen, der Ruhm der Ukraine – und wir werden gemeinsam siegen!

Sergij Pantjuk wurde 1966 im Dorf Sokilets im Westen der Ukraine geboren. Er ist Schriftsteller, Übersetzer, auch Redakteur, Journalist und Herausgeber.

 

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