Keine Trendwende in Schweden
Das Image von einem liberalen und toleranten Schweden mit einem funktionierenden Wohlfahrtsstaat ist seit langem schwer beschädigt. Kristersson und seine Politikerkollegen versuchen gar nicht mehr, dieses Bild aufrechtzuerhalten: "Dass wir keine Kontrolle über die Gewaltwelle haben, ist offensichtlich", sagte der Premier Ende Jänner bei einer Pressekonferenz. "Inländischer Terrorismus" sei das. Kristersson führt seit 2022 eine Minderheitsregierung an, die von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, der zweitstärksten Kraft im Land, unterstützt wird.
Seitdem wurde eine Reihe an Gesetzesänderungen zur Kriminalitätsbekämpfung beschlossen: Seit Herbst 2023 darf die Polizei Menschen auch ohne konkreten Verdacht heimlich abhören. Die Polizei darf Luxusgüter wie beispielsweise Autos oder Uhren von Kriminellen beschlagnahmen, ohne, dass es einen konkreten Tatverdacht gibt – das gilt jetzt auch für unter 15-Jährige. Hinter vielen Gewalttaten stecken laut Polizei 12-, 13- oder 14-Jährige. Die kriminellen Banden rekrutieren Minderjährige unter anderem deswegen, weil die Höchststrafen bei Mord für Minderjährige vier Jahre geschlossene Jugendbetreuung umfassen.
Die bisherigen Gesetzesänderungen haben diesbezüglich keine große Trendumkehr gebracht – im Gegenteil: Seit die neue, rechts-konservative Regierung im Amt ist, ist die Anzahl der Kinder unter 15 Jahren, die mit Morden in Verbindung gebracht werden, laut Zahlen der Staatsanwaltschaft stark gestiegen. 2023 waren es 36, 2024 schon 136 Kinder.
Neue Gesetze: Auch Kinder heimlich abhören
Weitere drastische Maßnahmen werden diskutiert. Eine davon soll – wenn es nach der Regierung geht – bis Herbst eingeführt werden: Kinder unter 15 Jahren sollen bei Tatverdacht heimlich abgehört werden dürfen. Die oppositionellen Sozialdemokraten unterstützen das Gesetz. "Es geht darum, Leben zu schützen. Wir befinden uns in einer akuten und nationalen Krise, in der Kinder als Soldaten von Erwachsenen missbraucht werden", begründete Parteichefin Magdalena Andersson schon im September den Umschwung ihrer Partei in der Frage.
Außerdem soll die Polizei tatverdächtige Kinder über einen längeren Zeitraum in Gewahrsam nehmen dürfen sowie Hausdurchsuchungen und Leibesvisitation durchführen. Ein Gesetz, das weitere Befugnisse zur Kamera- und Drohnenüberwachung sowie Gesichtserkennung enthält, soll auch noch heuer in Kraft treten.
"Enorm hohes Risiko"
Ein Grund, warum es der Regierung mit Gesetzesänderungen aktuell nicht schnell genug gehen kann, ist auch der Mord am Onkel des mächtigen Bandenbosses Rawa Majid Ende Jänner in Stockholm. Die schwedische Polizei beurteilt das Risiko, dass nach den Morden an Verwandten im Gangmilieu die Gewalt eskaliert, als "enorm hoch".
Rawa Majid, schwedisch-türkischer Doppelstaatsbürger, so wie auch andere Köpfe der Gangs, sind für die schwedischen Behörden trotz aller Gesetzesänderungen schwer zu fassen: Sie befinden sich längst im Ausland, etwa in der Türkei und im Iran, und koordinieren von dort die Mordaufträge in Schweden. Die Polizei spricht von rund 600 Gangkriminellen, die sich außerhalb Schwedens aufhalten. Schweden arbeite laut Premier Kristersson daran, dass Bandenchefs aus der Türkei, dem Iran, Irak und den Vereinigten Arabischen Emiraten ausgeliefert werden.
Staatsbürgerschaft entziehen?
Kriminelle Doppelstaatsbürger stehen im Fokus einer weiteren Gesetzesänderung: die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Eine breite Mehrheit im Reichstag ist zwar dafür, die Staatsbürgerschaft von Doppelstaatsbürgern aberkennen zu können, wenn diese etwa falsche Angaben gemacht haben oder Straftaten begangen haben, die die Sicherheit Schwedens ernsthaft gefährden, beispielsweise durch Spionage.
Die Minderheitsregierung aus Moderaten, Christdemokraten und Liberalen sowie die rechtspopulistischen Schwedendemokraten wollen diese Möglichkeit aber auch auf Bandenkriminelle mit Doppelstaatsbürgerschaft ausdehnen.
Dabei ziehen Sozialdemokraten und die restlichen Oppositionsparteien nicht mit. "Wir wissen nicht, um welche Art von Verbrechen es sich handeln könnte", heißt es von den Sozialdemokraten.
Um Doppelstaatsbürgerschaften abzuerkennen, müsste die Verfassung geändert werden. Das aber würde mehrere Jahre dauern: Der Reichstag müsste zweimal mit "Ja" abstimmen und es müsste eine Parlamentswahl zwischen den beiden Abstimmungen liegen.
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