Schicksalsreferendum in Italien: Wirbel um radierbare Stifte

Schicksalsreferendum in Italien: Wirbel um radierbare Stifte
Beim Referendum über die Verfassungsänderung zeichnet sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. Aufregung um "radierbare Bleistifte".

Für Hochspannung hat am Sonntag das Referendum über die größte Verfassungsreform seit 1946 gesorgt. Vom Ausgang des Referendums hängt auch die Zukunft der Regierung des sozialdemokratischen Regierungschef Matteo Renzi ab. Bis zum Abend zeichnete sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. Überschattet wurde die Volksabstimmung von Betrugsvorwürfen.

Bis 19.00 Uhr hatten bereits 56 Prozent der wahlberechtigten Italiener ihre Stimmen abgegeben, teilte das Innenministerium in Rom mit. Insgesamt waren 47 Millionen Italiener aufgerufen über die umfassende Verfassungsreform der Regierung abzustimmen. Mit der Reform soll der Senat verkleinert und entmachtet und damit die legislative Arbeit erleichtert werden. Renzi hatte im Falle einer Niederlage seinen Rücktritt in Aussicht gestellt. Der Ausgang war bis zuletzt ungewiss, in Umfragen lag das "Nein" zuletzt vorn.

Gegen die Reform hatten nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch einige prominente Politiker von Renzis Demokratischer Partei (PD) mobil gemacht. Scheitert die Reform, werden eine Regierungskrise und Turbulenzen an den Finanzmärkten befürchtet.

Schicksalsreferendum in Italien: Wirbel um radierbare Stifte
A picture shows ballots in a polling station during a referendum on constitutional reforms, on December 4, 2016 in Rome. Italians began voting today in a constitutional referendum on which reformist Prime Minister Matteo Renzi has staked his future. Under Renzi's proposed reform, a body of 315 directly-elected and five lifetime lawmakers will become one with only 100 members, mostly nominated by the regions. The body would also be stripped of most of its powers to block and revise legislation, and to unseat governments. / AFP PHOTO / Filippo MONTEFORTE

Ergebnisse in der Nacht

Die Wahllokale waren noch bis 23.00 Uhr geöffnet. Mit Wahlergebnissen wird in der Nacht auf Montag gerechnet. Da es sich um ein Referendum zur Bestätigung einer vom Parlament gebilligten Verfassungsreform handelt, ist anders als bei anderen Volksabstimmungen in Italien kein Beteiligungsquorum vorgeschrieben.

Bis zuletzt appellierten Politiker am Sonntag noch an die Italiener, zu den Urnen zu gehen. Senatspräsident Pietro Grasso schrieb auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: "Das Volk hat die Souveränität. Wer nicht wählt, lässt zu, dass andere für ihn entscheiden." Politische Beobachter in Rom gingen am Sonntag davon aus, dass die rege Wahlbeteiligung dem "Ja"-Lager um Regierungschef Renzi nützen könnte. Andererseits war auch die Mobilisierung der Gegner der Reform sehr groß.

Der Gründer der europakritischen Fünf-Sterne-Bewegung, Beppe Grillo, sprach am Sonntag von einer möglichen Niederlage für sein "Nein"-Lager. "Wir haben eine großartige Arbeit geleistet. Sollten wir verlieren, ist das nicht unsere Schuld. Wenn die Italiener sich für das 'Ja' entscheiden, respektieren wir diesen Beschluss", versicherte Grillo. Er wiederholte jedoch seine Forderung, dass es so rasch wie möglich zu Parlamentswahlen kommen müsse.

Radierbare Stifte?

Überschattet wurde die Wahl von Betrugsvorwürfen. Kritik gab es wegen radierbarer Bleistifte in den Wahlkabinen. Dutzende Bürger aus verschiedenen Teilen des Landes meldeten in sozialen Netzwerken, dass Stifte verwendet worden seien, deren Schrift löschbar sei. Der Konsumentenschutzverband Codacons reichte daher bei 140 Staatsanwaltschaften in ganz Italien Klagen ein. Die Oppositionspartei von Ex-Premier Silvio Berlusconi rief ihre Anhänger zu strengen Kontrollen in den Wahllokalen auf. "Ist das ein Trick von Premier Renzi, um das Referendum zu manipulieren?", meinte die Forza-Italia-Parlamentarierin Daniela Santanche.

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People queue to vote during a referendum on constitutional reforms, on December 4, 2016 outside a polling station in Rome. Italians began voting today in a constitutional referendum on which reformist Prime Minister Matteo Renzi has staked his future. Under Renzi's proposed reform, a body of 315 directly-elected and five lifetime lawmakers will become one with only 100 members, mostly nominated by the regions. The body would also be stripped of most of its powers to block and revise legislation, and to unseat governments. / AFP PHOTO / Filippo MONTEFORTE
Das italienische Innenministerium versicherte, dass die in den Wahllokalen verteilten Stifte unlöschbar seien. Die vom deutschen Stifte-Hersteller Faber-Castell produzierten Stifte würden lediglich für Wahlen verwendet, hieß es in einer Presseaussendung. Dieses Jahr seien 80.000 nicht-radierbare Stifte für das Verfassungsreferendum verteilt worden. Die Stifte würden bereits seit fünf Jahren verwendet.

Auch in Zusammenhang mit der Briefwahl der Auslandsitaliener kam es zu Kritik. Das "Komitee für das Nein" kritisierte, dass seine Beobachter nicht zur Auszählung der per Post eingetroffenen Wahlzettel der Auslandsitaliener zugelassen worden seien. Damit seien Transparenzregeln missachtet worden.

Der Konsumentenschutzverband Codacons reichte außerdem eine Klage bei der römischen Staatsanwaltschaft wegen einer Wahlwerbung für das "Ja" ein, die auf der Teletext-Seite des öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RAI gezeigt worden sein soll. Damit seien die Wahlregeln verletzt worden. Die RAI erklärte in einer Presseaussendung, dass die umstrittene Wahlwerbung nicht über ihre Werbeplattformen geschaltet worden sei.

"Wenn wir diese Chance verpassen, kommt sie 20 Jahre nicht wieder"

Am Freitagabend hatte Renzi noch einmal an seine Landsleute appelliert: "Unser 'Ja' wird nicht nur Italien ändern, sondern auch Europa und die ganze Welt", sagte er in Florenz. "Wenn wir diese Chance verpassen, kommt sie 20 Jahre nicht wieder." Am Sonntag gab er in Florenz gemeinsam mit seiner Frau Agnese Landini seine Stimme ab. Roms populistische Bürgermeisterin Virginia Raggi und der konservative Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi wählten in der Hauptstadt.

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A polling station officers takes a ballot during a referendum on constitutional reforms, on December 4, 2016 in Rome. Italians began voting today in a constitutional referendum on which reformist Prime Minister Matteo Renzi has staked his future. Under Renzi's proposed reform, a body of 315 directly-elected and five lifetime lawmakers will become one with only 100 members, mostly nominated by the regions. The body would also be stripped of most of its powers to block and revise legislation, and to unseat governments. / AFP PHOTO / Filippo MONTEFORTE
In der EU besteht die Befürchtung, dass ein "Nein" die populistischen und euro-kritischen Kräfte in dem Land stärken wird. Aber auch auf den Finanzmärkten wird der Ausgang des Referendums mit Sorge erwartet. Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft im Euro-Raum und hochverschuldet. Zudem bekommt das Land seine Bankenkrise nicht in den Griff.

Kern der Verfassungsreform ist die Abschaffung der Gleichberechtigung beider Kammern: So ist vorgesehen, den Senat von derzeit 315 auf 100 Mitglieder zu verkleinern. Er soll außerdem der Regierung nicht mehr das Misstrauen aussprechen können und nur noch über eine begrenzte Anzahl von Gesetzen befinden dürfen. Außerdem sollen die Regionen eine Reihe von Kompetenzen an Rom abgeben, die 110 Provinzen als Verwaltungseinheit zwischen Regionen und Gemeinden werden - bis auf Südtirol und Trient - überhaupt gestrichen. Ziel ist es, die italienische Politik schlanker und effizienter zu machen. Die Gegner, die aus allen politischen Lagern kommen, befürchten eine Machtkonzentration beim Regierungschef.

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A man waits to vote for a referendum on constitutional reforms, on December 4, 2016 at a polling station in Milan. Italians began voting today in a constitutional referendum on which reformist Prime Minister Matteo Renzi has staked his future. Under Renzi's proposed reform, a body of 315 directly-elected and five lifetime lawmakers will become one with only 100 members, mostly nominated by the regions. The body would also be stripped of most of its powers to block and revise legislation, and to unseat governments. / AFP PHOTO / MARCO BERTORELLO
Seit heuer gilt in Italien überdies ein neues Wahlrecht, allerdings allein für das Abgeordnetenhaus. Die Partei, die mindestens 40 Prozent der Stimmen bei einer Wahl gewinnt, soll dort automatisch 55 Prozent der Sitze bekommen. Sollte die Verfassungsreform aber abgelehnt werden und der Senat in seiner jetzigen Form bestehen bleiben, müsste auch das Wahlrecht reformiert werden.

"Ich würde mit 'Ja' stimmen, wenn es nicht für Renzi wäre"

"Ich stimme mit Ja, denn ich will, dass Italien sich ändert", sagte die Händlerin Marina Marabitti. Auch andere sehen dringenden Reformbedarf. Der Wähler Giancarlo Sallusti beschrieb sein Dilemma: "Ich würde mit 'Ja' stimmen, wenn es nicht für Renzi wäre." Die 21-jährige Studentin Elena Piccolo hielt es ebenfalls für einen "Fehler", dass Renzi die Wahl zu einer Abstimmung über sich selbst gemacht habe

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A man takes his ballot during the referendum on constitutional reform, in Pontassieve, near Florence, northern Italy December 4, 2016. REUTERS/Paolo Lo Debole FOR EDITORIAL USE. NO RESALES. NO ARCHIVE. TPX IMAGES OF THE DAY
Andere stimmten mit einem "klaren Nein". "Man darf die Verfassung nicht antasten", sagte der 77-jährige Fernando Angelaccio. "Renzi will nur mehr Macht, und seine Priorität liegt bei den Banken, nicht bei den Pensionisten."

"Wenn Renzi verliert, ist das endlich die Chance, dass er nach Hause geht"

Die Opposition äußerte ihre Hoffnung auf einen Sturz Renzis durch das Referendum. Lega-Nord-Chef Matteo Salvini versprach am Sonntag den Beginn einer neuen politischen Ära. "Renzi, der sich als König der Welt fühlt, wird nach Hause gehen", sagte er. Berlusconi twitterte: "Wenn Renzi verliert, ist das endlich die Chance, dass er nach Hause geht."

Zur Wahl aufgerufen waren fast 51 Millionen Menschen einschließlich der etwa vier Millionen Auslandsitaliener. Da die Wahllokale bis 23.00 Uhr geöffnet blieben, wurde erst in der Nacht auf Montag mit dem Ergebnis gerechnet.
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Referendum ballots are seen at a polling station in Milan, Italy, December 4, 2016. REUTERS/Alessandro Garofalo
1. Eine Verfassungsänderung wird seit 30 Jahren diskutiert.

2. Die Reform wurde bereits vom Senat und der Abgeordnetenkammer abgenickt.

3. Sie soll ein in Europa einzigartiges System mit zwei gleichberechtigten Parlamentskammern abschaffen ("perfekter Bikameralismus").

4. 47 Paragrafen sollen geändert werden.

5. Der Senat soll von 315 auf 100 Mitglieder schrumpfen und ehrenamtlich arbeiten.

6. Das Volk soll die Senatoren nicht mehr direkt wählen können, nur noch die Abgeordnetenkammer.

7. Die Senatoren sollen nicht mehr über alle Gesetze abstimmen können, nur noch über Verfassungs- und EU-Fragen.

8. Nur die Abgeordneten sollen der Regierung das Vertrauen entziehen können.

9. Die Rechte der Regionen sollen beschnitten werden und der Staat künftig über Angelegenheiten wie Tourismus, Kulturgüter und Zivilschutz entscheiden.

10. Mit der Reform soll der Staat 500 Millionen Euro sparen. Kritiker sprechen von maximal 100 bis 160 Millionen.

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A man casts his ballot during a referendum on constitutional reforms, on December 4, 2016 in a polling station in Rome. Italians began voting today in a constitutional referendum on which reformist Prime Minister Matteo Renzi has staked his future. Under Renzi's proposed reform, a body of 315 directly-elected and five lifetime lawmakers will become one with only 100 members, mostly nominated by the regions. The body would also be stripped of most of its powers to block and revise legislation, and to unseat governments. / AFP PHOTO / Filippo MONTEFORTE
Der italienische Regierungschef Matteo Renzi nennt sie die "Mutter aller Reformen". Die Verfassungsänderung, mit der Italiens Grundgesetz nach fast 70 Jahren reformiert wird, soll das parlamentarische System modernisieren und effizienter gestalten. Die Italiener sollen per Referendum am heutigen Sonntag die vom Parlament verabschiedete Reform absegnen. Hier die wesentlichen Punkte der Reform:

100 Senatoren: Künftig wird der Senat nur noch aus 100 Sitzen bestehen, statt aus 315 wie bisher. 74 Senatoren sollen Vertreter der Regionalparlamente, 21 Bürgermeister von Großstädten sein. Außerdem kann der Staatspräsident fünf Senatoren ernennen. Letztere werden jedoch lediglich sieben Jahre (die Amtszeit des Präsidenten) im Senat sitzen, nicht mehr auf Lebenszeit. Südtirol wird zwei Senatoren entsenden.

Mandatsdauer: Die Dauer des Mandats eines Senators ist an die Legislatur seines Regionalrats bzw. seines Landtags gebunden. Auf die bisherigen Gehälter von bis zu 15.000 Euro monatlich müssen die Senatoren verzichten. Sie erhalten nur noch die Gehälter ihrer Regionalparlamente. Kein Land im Westen leistet sich ein so großes und teures Parlament wie Italien bisher.

Vertrauen und Kompetenzen: Der Senat wird künftig nur noch für eine begrenzte Zahl von Gesetzen zuständig sein und bei Vertrauensabstimmungen nicht mehr gefragt werden. Bindend ist die Zustimmung des Senats nur noch bei internationalen Verträgen, bei Verfassungsreformen, bei der Wahlgesetzgebung und beim Familienrecht und Minderheitenschutz. Für alle anderen Themenbereiche ist nur noch die Abgeordnetenkammer zuständig. Somit wird das seit 70 Jahren geltende und blockadeanfällige Parlamentssystem mit zwei gleichberechtigten Kammern abgeschafft. Dieses führte dazu, dass Gesetzesinitiativen oft jahrelang zwischen den beiden Häusern hin und her geschoben wurden.

Vorrangige Gesetze: Die Regierung wird künftig die Abgeordnetenkammer bitten können, sich prioritär mit Gesetzesentwürfen zu befassen, die sie für wichtig hält. Die Abgeordnetenkammer wird darüber binnen 70 Tagen abstimmen müssen. Bei komplexeren Gesetzen verlängert sich diese Frist auf insgesamt 95 Tage.

Verfassungsgericht: Die Abgeordnetenkammer wird drei Verfassungsrichter wählen, der Senat zwei. Die "Corte Costituzionale" wird sich künftig zur Rechtskonformität des Wahlgesetzes äußern können.

Referendumsrecht: Das Referendumsrecht wird erweitert. Erstmals sind auch Volksabstimmungen vorgesehen, mit denen Gesetze eingeführt werden. Bisher sah die Verfassung lediglich Referenden zur (teilweisen) Aufhebung geltender Gesetze vor.

Wahlmodus für den Staatspräsidenten: Das Staatsoberhaupt soll vom Parlament künftig in einer Geheimabstimmung möglichst mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Nach dem vierten ergebnislosen Wahlgang wird eine Mehrheit von drei Fünfteln der Wahlberechtigten genügen, um das Staatsoberhaupt zu wählen. Nach dem siebenten Wahlgang sinkt die Mehrheit auf drei Fünftel der tatsächlich Abstimmenden.

Zentralismus: Der italienische Staat entzieht den Regionen zahlreiche Zuständigkeiten, vor allem im Bereich Energie, Infrastrukturen, Gesundheit und Zivilschutz. Die Provinzen, die mittlere Ebene der Gebietskörperschaften Italiens, werden abgeschafft, mit Ausnahme der Autonomen Provinzen Bozen und Trient. Auch der in der Verfassung verankerte Nationalrat für Wirtschaft und Arbeit (CNEL) fällt weg.

Wahlgesetz: Sollte die Verfassungsänderung per Referendum abgesegnet werden, würde die Regierung eine deutlich stärkere Stellung als derzeit erhalten, weil in den vergangenen Monaten auch das Wahlrecht für das Abgeordnetenhaus geändert wurde. Bei den nächsten Wahlen erhält die stärkste Partei automatisch 54 Prozent der Sitze, sofern ihr Stimmenanteil 40 Prozent übersteigt. Sollte keine Partei diese Hürde überwinden, treten die beiden stärksten Parteien in einer Stichwahl gegeneinander an. Die siegreiche Partei erhält dann den Mehrheitsbonus. Der künftige Regierungschef wird daher nicht mehr von zerstrittenen Koalitionen abhängig sein, was Italien eine stärkere politische Stabilität bescheren soll. 63 Regierungen hat es in den vergangenen 70 Jahren in Italien gegeben.

Die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung hat er zum Plebiszit über die eigene Person gemacht. Doch diesmal könnte Italiens machtbewusster, gerade einmal 41 Jahre alter Ministerpräsident Matteo Renzi zu hoch gepokert haben. Umfragen sagten zuletzt einen Sieg des Nein zu dem Projekt voraus, mit dem Renzi den Senat entmachten und das Parlament entscheidungsfreudiger machen will.

Hinzu kommt das bereits 2015 verabschiedete neue Wahlrecht, das der stärksten Kraft einen massiven Regierungsbonus gewährt und dem Regierungschef eine wesentlich größere Machtposition beschert. Was Renzi ursprünglich als Befreiungsschlag geplant hatte, nämlich ein massives Ja bei dem Referendum, könnte nun zum Fiasko für ihn werden.

Renzi hatte im Februar 2014 in einem Coup innerhalb seiner Demokratischen Partei (PD) Enrico Letta, die Nummer zwei der Partei, gestürzt und dessen Nachfolge als Chef der Regierung übernommen. Seitdem stellte sich Renzi, mit 39 Jahren der jüngste Ministerpräsident in der Geschichte Italiens, selbst nie zur Wahl.

Dafür gebärdete er sich als "Turboreformer", der das Land mit verschiedenen Maßnahmen aus der Wirtschaftskrise und der politischen Instabilität holen wollte. Sogar bei Anhängern der Rechten um den ehemaligen Regierungschef Silvio Berlusconi kam er dabei gut an - zumal ihm weder politische Skandale noch Korruptionsaffären anhafteten. Allerdings hatte Renzi auch während seiner gesamten politischen Karriere weder ein Parlamentsmandat noch einen Ministerposten inne.

Genau diese Unerfahrenheit sehen Kritiker als Renzis Handicap an. Sein politisches Programm ist teils unscharf. Kernforderungen sind weniger Staatsausgaben und weniger Bürokratie. Harte Verhandlungen mit Gewerkschaften, die ihm eine anhaltend hohe Arbeitslosenrate ankreiden, und politischen Schwergewichten sind seine Sache nicht. Politisch eifert er seinen Vorbildern nach, US-Präsident Barack Obama und dem ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair.

Gern bezeichnet sich Renzi als "rottamatore" (Verschrotter), der mit den "alten Eliten" aufräumt. Mit altgedienten Parteimitgliedern tat er dies bald: Auf sein Betreiben hin traten sowohl der einstige Ministerpräsident Massimo D'Alema als auch der ehemalige Bewerber für das Amt des Regierungschefs, Walter Veltroni, bei der jüngsten Parlamentswahl nicht mehr an.

Zumindest D'Alema hat das nicht vergessen: Als einflussreiches Mitglied der PD-Minderheit, die für das Nein zum Referendum wirbt, war er die vergangenen Wochen und Monate landauf, landab unterwegs.

Geboren wurde Renzi, der stolz auf seine Jahre als katholischer Pfadfinder verweist, am 11. Jänner 1975 in Florenz. Nach seinem Jusstudium arbeitete er in der Marketingfirma seiner Familie. Mit 19 Jahren trat er in die politischen Fußstapfen seines Vaters, eines örtlichen Abgeordneten der Christdemokraten.

2001 wurde Renzi der örtliche Koordinator der christdemokratischen Zentrumsbewegung Margherita, die später in der Demokratischen Partei aufging. Die Wahl zum Bürgermeister von Florenz 2009 war Renzis politischer Durchbruch.

Eines von Renzis Büchern trägt den Titel "Zwischen De Gasperi und U2". Alcide De Gasperi, historischer Führer der italienischen Christdemokraten und mit Robert Schuman und Konrad Adenauer einer der Gründerväter der europäischen Einigung nach 1945, gehört genauso zu seinen Idolen wie die irische Rockband U2. Verheiratet ist der Jurist mit der Italienischlehrerin Agnese, die er noch aus Pfadfinderzeiten kennt und mit der er drei Kinder hat.

Vordergründig geht es nur um eine neue Verfassung und Reform des Senats, die der Regierung in Rom mehr Macht verleihen würde. De facto geht es bei der Abstimmung in Italien am 4. Dezember aber um mehr. Schwarzseher malen dramatische Szenarien. Droht Italien ein Finanzkollaps? Kocht die Eurokrise erneut hoch? Fünf Szenarien, was bei einem „Nein“ droht – mit absteigender Wahrscheinlichkeit.

1. Banken

Die größte Sprengkraft liegt bei Italiens Geldinstituten. Deren faule Kredite machten zuletzt 199 Milliarden Euro aus. Das allein wäre heikel und macht das Land anfällig für Finanzturbulenzen. Der große „Elefant im Raum“ sei aber Monte dei Paschi di Siena (MPS), analysiert Silvia Merler, Italien- und Finanzexpertin der Denkfabrik Bruegel. Die kaputte Bank soll bis Ende des Monats eine Kapitalerhöhung um 5 Mrd. Euro stemmen. Und das, obwohl sie an der Börse nur noch rund 600 Mio. Euro wert ist. Das wäre schon in normalen Zeiten ein Husarenstück. Vor dem Hintergrund einer Regierungskrise und Finanzturbulenzen wäre es schlicht unmöglich.

Und eine Abwicklung würde einen Aufstand bei Italiens Kleinsparern auslösen. Private Haushalte besitzen in Italien nämlich 49 Prozent der Schuldpapiere (Bankanleihen). Bei nachrangigen MPS-Anleihen sind es sogar 65 Prozent. Deshalb birgt eine Abwicklung samt Gläubigerbeteiligung politischen Sprengstoff: Nicht anonyme Finanzinvestoren oder -institute, sondern der kleine Mann müsste „bluten“.

2. Reformen

Das Referendum sei in Gesprächen mit Unternehmern allgegenwärtig, sagt Gudrun Hager, Österreichs Wirtschaftsdelegierte in Mailand, zum KURIER. Italiens Industrie steht fast geschlossen hinter Renzi und plädiert für „Ja“. Es wäre nämlich ein Signal, den Kurs wirtschaftsfreundlicher Reformen fortzusetzen. Renzi hat mit einer radikalen Arbeitsmarktreform den starren Kündigungsschutz aufgehoben. „Es sind wichtige Initialzündungen passiert“, sagt Hager. Es klingt zwar widersinnig, aber gelockerter Kündigungsschutz sorge für stabilere Arbeitsverhältnisse. Zuvor hatten Italiens Firmen nämlich kaum jemanden neu (und fix) eingestellt, weil sie diese Mitarbeiter im Krisenfall praktisch nicht kündigen konnten.

Beim traditionell schwachen Wirtschaftswachstum zeichne sich eine „Trendwende zum Positiven“ ab. Und auch die Arbeitslosigkeit sinkt - wenn auch sehr langsam. Ein „Nein“ beim Referendum wäre zwar keine Tragödie, sagt Hager. Aber Italiens Reformfähigkeit stünde zur Debatte.

3. Regierungskrise

In Rom gaben sich seit 1945 sage und schreibe 65 Regierungen die Klinke in die Hand. Vor zwei Wochen feierte Renzi 1000 Tage im Amt. Das reichte aus, um ihn auf Platz vier der längstdienenden Ministerpräsidenten zu hieven. Nur Alcide De Gasperi, Silvio Berlusconi und Bettino Craxi hielten sich länger.

Weil Renzi aber auf ein klares „Ja“ spekuliert und seine Zukunft daran geknüpft hatte, wackelt seine Regierung. Und die linkspopulistische „Fünf-Sterne-Bewegung“ von Politclown Beppe Grillo schart in den Löchern, um bei Neuwahlen nach Platz eins zu greifen. Die besondere Ironie daran: Gerade weil die Verfassungsreform gescheitert wäre, könnten die „Fünf Sterne“ als Wahlsieger wohl wenig bewirken. Sie würden vom Senat und dessen Veto-Rechten ausgebremst.

4. Schulden

Das augenfälligste Problem Italiens sind die hohen Staatsschulden: 2170 Milliarden Euro, das sind 132 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die Befürchtung: Ein Käuferstreik für italienische Staatsanleihen könnte die Zinsen explodieren lassen und dazu führen, dass Italien kein frisches Geld erhält. Damit würde es unmöglich, den riesigen Schuldenberg umzuschichten; ein griechisches Szenario wäre die Folge. Dabei wird aber eins vergessen: Die Europäische Zentralbank steht Gewehr bei Fuß, um solche Szenarien zu verhindern.

5. Eurozone

Der Landsmann an der EZB-Spitze, Mario Draghi, wüsste auch zu verhindern, dass Italien aus der Eurozone ausscheidet. Finanzielle Turbulenzen könnten kurzfristig zwar auch andere Euro-Problemfälle wie Portugal oder Spanien anstecken. Die Experten von Raiffeisen Research erwarten „vor allem zu Wochenbeginn volatile Handelstage“ – also gröbere Kursschwankungen. Die Ängste vor politischem Chaos seien aber übertrieben. Das Wirtschaftsmagazin The Economist urteilt radikaler: „Wenn der Euro das nicht überlebt, wäre der Kollaps ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen.“

Drei R der Nein-Sager

Warum das Nein-Lager in Umfragen bis zuletzt vorne lag, hatte unterdessen mehrere Gründe:

Renzi Italiens Premier machte denselben Fehler wie sein britischer Ex-Kollege David Cameron. Auch dieser war sich zu siegessicher, als er aus parteitaktischen Gründen ein Referendum über den EU-Austritt ankündigte. Im Endeffekt stolperte er über seine Arroganz und das Brexit-Votum seiner Landsleute. Auch in Italien wird die Abstimmung von Vielen als Urteil über Renzis Wirtschaftsreformen gesehen, die natürlich viele Italiener auch negativ zu spüren bekommen. Diese Sichtweise haben die Oppositionsparteien kräftig befeuert.

Regionen Vielen behagt die Abschaffung der Regionen (ausgenommen Südtirol und Trient) als Verwaltungseinheiten nicht.

Rom Wiederum anderen bereitet die Konzentration und Zentralisierung der Macht Sorgen. Interessanterweise auch dem wirtschaftsliberalen Economist: „Damit würde ein gewählter starker Mann geschaffen. Und das in dem Land, das Benito Mussolini und Silvio Berlusconi hervorgebracht hat und besorgniserregend anfällig für Populismus ist.“

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