„Wie soll ich meine zwei Kinder ernähren?“, fragt Sergej. Der junge Russe, blaue Augen, kurz geschorenes Haar, strahlt beim Gedanken an seine Arbeit. Seit drei Generationen arbeite die ganze Familie im GAZ-Werk in NischnijNowgorod, sagt er stolz. Dann kommt der Nachsatz: Bis jetzt zumindest.
Sergej sitzt am Mittwoch in einem Wiener Hotel; mit ihm elf weitere Mitarbeiter des Werks. Sie alle tragen T-Shirts, auf denen „SaveGAZ“ steht. Seit vergangener Woche sind sie auf Tour durch Europa, um für die Rettung ihrer Firma mobil zu machen. Rettung, das heißt zeitgleich: Abschaffung der Sanktionen. Denn die GAZ Group, Russlands größter Hersteller von Nutzfahrzeugen, kämpft um ihre Existenz – weil ihr Eigner, Oligarch Oleg Deripaska, auf der US-Sanktionsliste steht.
„Die Sanktionen rauben uns die Lebensgrundlage“, sagt auch Elena, die als Betriebsrätin bei GAZ arbeitet. Internationale Partner wie Daimler haben bereits Kooperationen eingestellt, tausende Jobs gingen verloren. Andere Geschäftspartner haben Kooperationen eingefroren, bis sich die Lage lichtet. Für die 40.000 Mitarbeiter stehe ihre Existenz auf dem Spiel: „Wir haben keine Perspektive“, sagt Jewgenij Morozow, Vorsitzender des GAZ-Zentralbetriebsrates.
Die Kreml-Erzählung
Das entspricht so gar nicht der Erzählung des Kreml.
Seit 2014 hört man von Russlands Präsident Wladimir Putin nur ein Mantra: Die Sanktionen der Europäer, eine Reaktion auf die Annexion der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine, würden nur dem Westen schaden; und auch die Strafmaßnahmen, die die USA wegen Krim-Krise und Einmischungen in den US-Wahlkampf erlassen haben, seien für Russland locker zu verkraften.
Allein, die Statistiken belegen das genaue Gegenteil. Das Kieler Institut für Wirtschaft hat errechnet, dass sich der monatliche Schaden für die Weltwirtschaft auf 5,6 Milliarden Dollar beläuft – und 60 Prozent davon auf Russland entfallen. 3,4 Milliarden Dollar entgehen Russland demnach monatlich.
Preise steigen massiv
Mitschuld an der tristen Lage, so die Experten, sei auch das Embargo, das Moskau selbst erlassen hat. Der Kreml hat als Reaktion auf die Sanktionen die Einfuhr von gewissen Lebensmitteln aus dem Westen untersagt – im Glauben, die heimische Wirtschaft könne dies kompensieren oder sogar davon profitieren. Mitnichten, wie sich zeigt: Die Lebensmittelpreise sind massiv gestiegen. Für Butter zahlt man knapp 80 Prozent mehr als noch 2014, bei Fisch sind es beinahe 70 Prozent. „Für weite Bevölkerungskreise sind Lebensmittel in einigermaßen guter Qualität unerschwinglich geworden“, sagt Rudolf Lukavsky, Delegierter der Österreichischen Wirtschaftskammer in Moskau. Dort, wo früher günstige Fleischwaren und Käse aus Importen angeboten wurden, stünden nun Produkte aus eigener neu entstandener Produktion in relativ einfacher Qualität, sagt er. Selbst Produkte, die Russland schon vor Beginn der Sanktionen in großem Maße produziert hat, sind teurer geworden – und das, obwohl der Staat der russischen Wirtschaft massiv unter die Arme greift: 60 Prozent der Investitionen in der Lebensmittelbranche sind Fördergelder.
Dass sich seit Beginn des Sanktionsregimes einiges nach unten verschoben hat, lässt sich aber auch an den Armutsstatistiken ablesen, die das staatliche Statistikinstitut herausgibt: Knapp 15 Prozent aller Russen leben unter der Armutsgrenze; eines von vier Kindern ist von Armut betroffen. Viel davon ist freilich auch auf die generell schlechte Wirtschaftslage in Russland zurückzuführen. „Das wirkliche Problem für die Bevölkerung ist die relativ schwache Konjunktur seit 2015“, sagt Lukavsky. Dadurch seien auch die Realeinkommen gefallen; sie sind zwischen 2014 und 2018 um 11 Prozent gesunken.
Das sind Zahlen, mit denen man im offiziellen Russland freilich wenig Freude hat. Rosstat, die offizielle Statistikbehörde, hat deshalb Anfang des Jahres sogar ihre Berechnungsmethode geändert – mit dem Effekt, dass die Werte kurzzeitig nicht mehr so dramatisch niedrig waren.
Ein solches Vorgehen ist bei den Sanktionen allerdings nicht so einfach möglich – den Grund, warum sie erlassen wurden, gibt es bekanntlich noch immer. Im Osten der Ukraine dauern die Kämpfe an; und die Krim wird der Kreml so schnell nicht mehr hergeben. Auf russischen Karten ist sie Staatsgebiet, sogar Apple hat die Halbinsel auf seinen Karten mittlerweile russifiziert – auf Druck des Kremls. Eine Verlängerung der EU-Sanktionen Ende des Jahres ist deshalb mehr als wahrscheinlich.
Sergej und seine Kollegen verstehen die Situation dennoch nicht, sagen sie. „Wir stellen ja nur zivile Produkte her, keine militärischen“, sagen sie. „Wir sind die falschen Opfer der Sanktionspolitik.“
Auswirkungen 2014 haben EU und die USA Embargos verhängt – verboten ist seither auch der Export von zivilen Gütern, wenn diese militärisch verwendet werden könnten. „Das hat auch die heimische Industrie getroffen“, sagt Simon Fleischmann, Referent für Exportkontrolle in der WKÖ – denn es gibt große russische Betriebe mit ziviler und militärischer Sparte. Der Export von Gütern zu zivilen Zwecken wird so massiv beeinträchtigt. Auch die US-Sanktionen hätten Effekte auf Österreich: Wer ein Geschäft mit jemandem eingehe, der auf einer US-Blacklist ist, sollte dies überprüfen. „Das sorgt regelmäßig für Unsicherheit.“
Chancen "Die Exporte 2019 immer noch um ein Drittel unter den Höchstwerten von 2013" sagt auch Rudolf Lukavsky, Wirtschaftsdelegierter der Österreichischen Wirtschaftskammer in Moskau. Etwa ein Drittel ist auf die Sanktionen zurückzuführen, der Rest auf die schwächere Wirtschaft und die Abwertung des Rubels. Chancen gebe es aber weiterhin für österreichische Firmen - etwa bei der Modernisierung und Diversifizierung der Industrie und der Landwirtschaft, von der metallurgischen bis zur Lebensmittel verarbeitenden Industrie", sagt der Experte.
Negatives überwiegt Ein wenig konnten österreichische Lieferanten von Ausrüstungen für russische Industrie profitieren, da russische Firmen durch den Marktschutz selbst ihre Produktion stark ausgeweitet haben und dafür auch Maschinen und Anlagen aus Österreich gekauft haben. Allerdings "überwiegen die negativen Aspekte, da insbesondere die protektionistische Politik Russlands mit einer Bevorzugung von lokalen Lieferanten bei öffentlichen Ausschreibungen österreichische Firmen bei diesen Projekten ausgeschlossen haben."
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