Ukraine: Der Krieg zieht in den Süden
Tag 155 im Krieg: Russland scheint sich im Ukraine-Krieg nun verstärkt auf den Süden des Landes zu konzentrieren. Moskau lasse gerade "massiv" Truppen in den Süden, speziell in die Regionen Cherson, Melitopol und Saporischschja, verlegen, so Oleksyj Arestowytsch, ukrainischer Berater.
Mehrere dutzend Orte im Donezk und in Charkiw standen unter russischem Artilleriebeschuss, mehrere Luftangriffe wurden geflogen. Sechs ukrainische Munitionsdepots in Donezk und Mykolaiw wurden laut russischen Angaben zerstört.
Kämpfe nähern sich nun den Städten Bachmut und Soledar. Bei Werschyna, etwa zehn Kilometer südöstlich von Bachmut, konnte Russland Erfolge erzielen. Andere Angriffe im Raum Bachmut und auch beim benachbarten Soledar konnten laut ukrainischem Generalstab hingegen abgewehrt worden. Auch nördlich von Slowjansk seien russische Attacken gescheitert.
Mehr Dynamik in ukrainischer Gegenoffensive
Die ukrainische Gegenoffensive auf die von Russland besetzte Stadt Cherson gewinnt nach Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes an Dynamik.
"Ihre Streitkräfte haben höchstwahrscheinlich einen Brückenkopf südlich des Flusses Inhulez errichtet, der die nördliche Grenze des von Russland besetzten Cherson bildet“, teilte das Verteidigungsministerium in London am Donnerstag mit. Der Inhulez ist ein Nebenfluss des Stroms Dnipro.
Mithilfe vom Westen gelieferter Artillerie hätten die ukrainischen Streitkräfte mindestens drei Brücken über den Dnipro beschädigt, auf die Russland angewiesen sei, um seine besetzten Gebiete zu versorgen, hieß es unter Berufung auf Geheimdienstinformationen. Eine davon sei die einen Kilometer lange Antoniwskyj-Brücke nahe der Stadt Cherson, die am Mittwoch erneut getroffen worden sei und nun höchstwahrscheinlich nicht mehr benutzt werden könne.
Dadurch wirke die russische 49. Armee, die am Westufer des Dnipro stationiert sei, äußerst verwundbar, hieß es aus London weiter. Auch die Stadt Cherson als politisch bedeutendste Stadt unter russischer Kontrolle sei vom Rest der besetzten Gebiete nun so gut wie abgeschnitten.
"Ihr Verlust würde die russischen Versuche, die Besatzung als Erfolg darzustellen, ernsthaft untergraben“, betonte das britische Verteidigungsministerium.
"Werden unser ganzes Land befreien"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij sagte in seiner abendlichen Videoansprache am Mittwoch mit Blick auf die von ukrainischen Streitkräften bombardierte Brücke über dem Fluss Dnipro im südlichen Gebiet Cherson, dass nach der Rückeroberung alles wieder aufgebaut werde.
„Wir werden unser ganzes Land mit militärischen, diplomatischen und allen anderen zugänglichen Instrumenten befreien.“
Zehntausende tote russische Soldaten
Im Krieg gegen die Ukraine gehen die Opferzahlen auf russischer Seite nach Schätzungen aus den USA längst in die Zehntausende.
„Wir wurden darüber informiert, dass mehr als 75.000 Russen entweder getötet oder verletzt wurden, was enorm ist“, zitierte der Sender CNN Elissa Slotkin, eine demokratische Abgeordnete aus dem Repräsentantenhaus, die zuvor an einem geheimen Briefing der US-Regierung teilgenommen hatte.
Der US-Auslandsgeheimdienst CIA hatte zuletzt geschätzt, dass auf russischer Seite bereits 15.000 Menschen ums Leben gekommen seien. Aktuelle Angaben der offiziellen Stellen in Russland zu Totenzahlen gibt es nicht.
Blinken will mit Lawrow reden
Zum ersten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine will US-Außenminister Antony Blinken mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow sprechen. Bei dem Telefonat „in den kommenden Tagen“ solle es um die Freilassung der in Moskau inhaftierten US-Basketballerin Brittney Griner und ihres Landsmanns Paul Whelan gehen, sagte Blinken bei einer Pressekonferenz in Washington am Mittwoch. Auch die Einhaltung des neuen Abkommens zum Export von Getreide aus der Ukraine will der US-Außenminister ansprechen.
Die US-Regierung habe Moskau „schon vor Wochen einen substanziellen Vorschlag auf den Tisch gelegt“, um die Freilassung Griners und Whelans zu erreichen, sagte Blinken. Einzelheiten zu dem Angebot nannte er nicht. Spekuliert wird darüber, dass die beiden gegen den in den USA inhaftierten russischen Waffenhändler Viktor But eingetauscht werden könnten.
Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, sagte am Mittwoch, man hoffe, dass Russland sich auf den Deal einlasse. Die Entscheidung für ein solches Angebot sei nicht leichtgefallen. Die US-Regierung habe den Vorschlag öffentlich gemacht, „damit die Welt weiß, wie ernst es den Vereinigten Staaten ist, unsere Bürger nach Hause zu holen“.
Russland: Bisher keine Initiative von US-Seite
Das russische Außenministerium teilte am Abend mit, es gebe kein offizielles Gesuch für ein solches Gespräch. Statt Diplomatie per „Megafon“ zu betreiben, solle sich Washington an die diplomatische Praxis halten, hieß es aus Moskau. Die in Russland inhaftierte US-Basketballerin Brittney Griner war am 17. Februar auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo wegen eines Drogendelikts festgenommen worden.
Bei der Kontrolle ihres Gepäcks im Februar soll sie sogenannte Vape-Kartuschen und eine geringe Menge Haschisch-Öl bei sich gehabt haben. Ein Gericht in der Nähe von Moskau verhandelt den Fall. Washington kritisiert, dass Griner zu Unrecht festgehalten werde. Sie selbst hatte zwar eingeräumt, Drogen im Gepäck gehabt zu haben. Allerdings habe sie auf ärztlichen Rat bloß medizinisches Marihuana als schmerzstillendes Mittel verwendet.
Paul Whelan, der mehrere Staatsbürgerschaften hat, war im Dezember 2018 in Russland verhaftet und der Spionage beschuldigt worden. Im Juni 2020 wurde er zu einer 16-jährigen Haftstrafe mit der Möglichkeit eines Aufenthalts in einem Arbeitslager verurteilt.
Getreideabkommen soll umgesetzt werden
Blinken kündigte an, mit Lawrow auch über die Einhaltung des neuen Abkommens zur geschützten Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine zu sprechen. „Die Vereinbarung ist ein positiver Schritt nach vorn, allerdings gibt es einen Unterschied zwischen einer Vereinbarung auf dem Papier und einer Vereinbarung in der Praxis“, sagte Blinken.
Am Freitag hatten die Kriegsgegner Ukraine und Russland mit den UN und der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, um Getreideausfuhren von drei ukrainischen Häfen über das Schwarze Meer zu ermöglichen. Von der Vorjahresernte warten ukrainischen Angaben zufolge noch über 20 Millionen Tonnen Getreide auf den Export. Der Hafenbetrieb war nach der russischen Invasion Ende Februar aus Sicherheitsgründen eingestellt worden. Die Ukraine verminte zudem ihre Küste zum Schutz vor russischen Landungseinsätzen. Die Häfen haben die Arbeit inzwischen wieder aufgenommen.
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