Ex-Kommandant wirft russischem Verteidigungsminister indirekt Verrat vor

Verteidigungsminister Schoigu
Sergej Schoigu handle zumindest fahrlässig, sagte Igor Girkin mit Blick auf die ausbleibenden militärischen Erfolge in der Ukraine.

Tag 78 im Krieg der Russen gegen die Ukraine: Ein bekannter ehemaliger Kommandant der pro-russischen Streitkräfte in der Ostukraine hat dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu wegen ausbleibender militärischer Erfolge schwere Vorwürfe gemacht. „Ich beschuldige Sergej Schoigu direkt mindestens der kriminellen Fahrlässigkeit“, sagte Igor Girkin in einem Videointerview, das am Freitag auf seinem Telegram-Kanal veröffentlicht wurde. „Ich habe keinen Grund, ihn des Verrats zu beschuldigen. Aber ich würde das vermuten.“

Das ist der bisher schärfste öffentliche Angriff auf Russlands militärische Führung von einem der prominenten Hardliner, die auf eine intensivere kriegerische Kampagne in der Ukraine drängen. Der Kreml äußerte sich zunächst nicht dazu. Zuvor hatte der ehemalige Kreml-Söldner Marat Gabidullin von der berüchtigten Wagner-Gruppe der Nachrichtenagentur Reuters gesagt, Moskaus Truppen seien schlecht auf den Krieg vorbereitet.

Abschuss von Flug MH17

Girkin, der das russische Pseudonym „Strelkow“ für Schütze trägt, ist im Westen kein Unbekannter: Er wurde von niederländischen Staatsanwälten des Mordes wegen seiner mutmaßlichen Rolle beim Abschuss des Flugs MH17 der Malaysia Airlines über der Ukraine im Jahr 2014 angeklagt. Dabei waren fast 300 Menschen ums Leben gekommen.

Ex-Kommandant wirft russischem Verteidigungsminister indirekt Verrat vor

Igor Girkin

Der russische Angriffskrieg dauert bereits seit Ende Februar. Als eines der Ziele hat Russland die vollständige Eroberung der Gebiete Donezk und Luhansk ausgegeben. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden bereits mehr als 3.500 Zivilisten getötet. Die UN gehen aber von weitaus höheren Opferzahlen aus.

Selenskij: Russlands Niederlage "offensichtlich"

Die strategische Niederlage Russlands ist nach Ansicht des ukrainischen Präsident Wolodimir Selenskij „offensichtlich“. Sie sei „für jeden auf der Welt offensichtlich und auch für diejenigen, die immer noch mit ihnen (den Russen) kommunizieren“, sagte Selenskij am Donnerstagabend in seiner täglichen Videobotschaft. Nur habe Russland nicht den Mut, die Niederlage einzugestehen. "Sie sind Feiglinge und versuchen, diese Wahrheit hinter neuen Raketen-, Luft- und Artillerieangriffen zu verbergen."

Angriffe auf Schulen und Kliniken

Der ukrainische Staatschef kritisierte die jüngsten russischen Angriffe, bei denen in Tschernihiw im Norden des Landes eine Schule getroffen worden war. „Natürlich ist der russische Staat in einem Zustand, in dem ihn jede Bildung nur behindert“, sagte Selenskij . Russische Kommandeure, die derartige Befehle zum Beschuss von Bildungseinrichtungen erteilten, seien „einfach krank - unheilbar“.

Daneben seien in der Ukraine seit Kriegsbeginn bereits 570 Gesundheitseinrichtungen durch russische Angriffe zerstört worden, darunter 101 Krankenhäuser. „Was bringt das?“, fragte Selenskij. "Das ist Unsinn, das ist Barbarei." Dies sei für ihn ein Zeichen der Selbstzerstörung Russlands.

Selenskij will Putin treffen

Trotz allem ist Selenskij weiter zu direkten Gesprächen mit Kremlchef Putin bereit - „doch nur mit ihm, ohne dessen Mittler und nur unter der Bedingung eines Dialogs statt eines Ultimatums.“ Das sagte Selenskij gegenüber dem italienischen Fernsehen.

Laut Kremlsprecher Peskow kann ein Treffen der beiden Staatschefs erst stattfinden, wenn es eine verbindliche Vereinbarung zwischen Moskau und Kiew gebe. In den Friedensverhandlungen zwischen beiden Ländern gibt es seinen Angaben zufolge aber keine Fortschritte.

Schiff beschädigt

Die ukrainischen Streitkräfte haben am unterdessen nach eigenen Angaben ein russisches Logistik-Kriegsschiff im Schwarzen Meer beschädigt. Die Wsewolod Bobrow sei in der Nähe der Schlangeninsel getroffen und in Brand gesetzt worden, erklärt ein Sprecher der Streitkräfte für den Militärbezirk Odessa im Internet. Die Angaben können von unabhängiger Seite nicht bestätigt werden.

Russische Raketen treffen Raffinerie in Krementschuk

Die Industriestadt Krementschuk in der Zentralukraine ist nach ukrainischen Angaben am Donnerstag von einer Serie russischer Raketen getroffen worden. Beim bisher größten Angriff auf die Stadt seit Kriegsbeginn vor zweieinhalb Monaten sei auch eine Raffinerie beschädigt worden, sagte der regionale Militärchef Dmitrij Lunin nach Angaben der Agentur Unian.

"Dort brennt es, Rettungsdienste sind im Einsatz", erklärte er. Menschen seien nicht zu Schaden gekommen. Insgesamt habe das russische Militär zwölf Raketen unbekannten Typs abgefeuert.

Bei schweren Gefechten zwischen russischen und ukrainischen Truppen sind im Gebiet Donezk nach ukrainischen Angaben mindestens fünf Zivilisten getötet worden. Die Gebietsverwaltung berichtete am Donnerstag im Nachrichtendienst Telegram von vier Toten in den Ortschaften Nowosseliwka, Awdijiwka und Lyman. In Jassynuwata, das unter Kontrolle der prorussischen Separatisten steht, fiel nach Medienberichten ein weiterer Zivilist Kämpfen zum Opfer. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.
 

Soldaten im Stahlwerk: Verhandlungen gehen weiter

Mit internationaler Unterstützung setzt die ukrainische Führung ihre Bemühungen um Rettung der Soldaten im belagerten Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol fort. „Wir haben eine neue Runde der Verhandlungen eröffnet“ sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk nach Angaben der „Ukrajinska Prawda“. Kiew habe den UN und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz das Mandat zu den Gesprächen mit der russischen Seite erteilt, die Türkei sei inzwischen als Vermittler dabei.

Angestrebt sei eine Evakuierung in mehreren Etappen - an erster Stelle stehe die Rettung von 38 schwer verwundeten Verteidigern aus Azovstal. Sollte dies klappen, „dann bewegen wir uns weiter“. Die Ukraine ist unter anderem bereit, russische Kriegsgefangene für die Verwundeten aus Azovstal auszutauschen. Im Gespräch mit den Tagesthemen der ARD beschrieb einer der Kämpfer die schwierige Lage. „Unsere Leben bedeuten nichts, mein Leben bedeutet nichts“, sagte Illia Samoilenko. Er machte sich zugleich wenig Hoffnung für die Zukunft: „Es könnte unser letztes Gespräch sein.“

Im weitläufigen Stahlwerk in der Hafenstadt haben sich die letzten ukrainischen Verteidiger verschanzt. Russland lehnt bisher jede Evakuierung ab, fordert von den Ukrainern im Werk die Kapitulation. Die Türkei schlug dem russischen Militär nach Angaben der Ukrajinska Prawda vor, alle ukrainischen Soldaten aus Azovstal auf dem Seeweg zu evakuieren. Sie sollten dann bis Kriegsende in der Türkei bleiben.

A view shows a plant of Azovstal Iron and Steel Works in Mariupol

Selenskij-Berater unterstellt russischer Führung "Idiotie"

Selenskijs Berater Olexij Arestowytsch führt seine gelegentlich falschen Analysen des Kriegsgeschehens auf „schreckliche Idiotie“ der politischen und militärischen Führung Russlands zurück. "Ich halte sie eigentlich für Menschen mit einem durchschnittlichen Verstand“, sagte der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskij nach einem Bericht der Agentur Unian. "Aber dann unternehmen sie etwas, das mir nie in den Sinn gekommen wäre, weil es so dumm ist.“

Russland habe zuletzt weitere 15 Kampfeinheiten "zusammengekratzt", um sie in den Kampf zu werfen. „In den vergangenen fünfeinhalbtausend Jahren Militärgeschichte lässt sich keine größere Idiotie finden“, sagte Arestowytsch. Zuletzt hatte er eine neue Offensive der russischen Armee gegen die ukrainische Hauptstadt Kiew nicht ausgeschlossen und von „sinnlosem Selbstmord“ gesprochen.

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