Russische Journalistin: "Wer protestiert, wird zerstört"

aus Paris Simone Weiler
Fast genau vor einem Jahr, am 14. März 2022, hielt Marina Owsjannikowa (44), damals Journalistin beim Ersten Kanal des russischen Staatsfernsehens, während der Live-Abendnachrichten ein Anti-Kriegsschild in die Kamera. Und sorgte so auch international für Aufsehen. Im Juli protestierte sie in der Nähe des Kremls öffentlich gegen Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Dafür wurde sie unter Hausarrest gestellt und zu einer Geldstrafe verurteilt, im Oktober floh sie schließlich nach Frankreich. Vor Kurzem hat sie das Buch "Zwischen Gut und Böse" veröffentlicht, in dem sie erzählt, wie sich ihr Leben seit ihrem Protest verändert hat.
KURIER: Sie sind seit Herbst in Frankreich untergetaucht. Die Veröffentlichung Ihres Buchs bringt Sie zurück in den Fokus der Medien. Wie geht es Ihnen nun?
Marina Owsjannikowa: Ich bin froh, in Sicherheit zu sein, denn ich könnte jetzt in einem russischen Gefängnis sitzen. Eigentlich kann ich es immer noch nicht fassen, dass die Flucht mit meiner zwölfjährigen Tochter gelungen ist. Als ich in den Hausarrest kam, lebte sie zunächst bei meinem Ex-Mann, und er verbot ihr den Kontakt zu mir. Doch während er in der Arbeit war, lud sie sich eine Taxi-App herunter und fuhr zu mir. Ohne meine Tochter hätte ich Russland nie verlassen. Als wir außer Landes waren, entzog mir ein Gericht das Sorgerecht. Das war eine Entscheidung, die natürlich klar politisch motiviert war.
Wie verlief Ihre Flucht?
Die NGO "Reporter ohne Grenzen" half uns. Wir wählten Freitagabend, wenn die Sicherheitsleute ins Wochenende gehen. Tatsächlich schrieb man mich erst am Montag zur Fahndung aus. Als das Auto vor mein Haus fuhr, tauchte plötzlich meine Mutter auf, weil sie spürte, dass etwas nicht stimmte – sie überwachte mich besser als die Polizei. Irgendwann konnte ich sie aber abwimmeln. Im Auto fiel mir ein, dass ich noch meine elektronische Fußfessel trug, ich trennte sie mit einer Drahtschere ab und warf sie aus dem Fenster. Die Fessel sandte ein Signal aus, aber die Polizei rief nur meine Freundin an, deren Nummer hinterlegt war. Sie antwortete nicht. Sie hatte mich auch bei meiner Protestaktion in Moskau gefilmt. Inzwischen ist auch sie in Frankreich, da es in Russland zu gefährlich für sie wurde.
Denken Sie, Sie können irgendwann wieder nach Russland zurückkehren?
Erst nach Putins Tod – wenn ich jetzt zurückkäme, müsste ich jahrelang ins Gefängnis. Aber ich hoffe, eines Tages zurückzukommen. Mein 18-jähriger Sohn und meine Mutter leben noch in Moskau. Beide unterstützen Wladimir Putin: Seine Gehirnwäsche funktioniert sehr gut. Ich sende ihnen viele Nachrichten über das, was wirklich in der Ukraine passiert, denn ich möchte ihre Einstellung ändern. Aber sie antworten mir nicht.
Wie haben Sie den Ausbruch des Krieges vor mehr als einem Jahr erlebt?
Ich konnte nicht mehr schlafen, ich konnte nichts mehr essen, es war ein emotionaler Schock. Niemals hätte ich einen Krieg zwischen Russen und Ukrainern erwartet. Es ist, als würde ich ein Gewehr nehmen, in die Ukraine fahren und meine beiden Cousins töten, die dort leben. Mein Vater war Ukrainer, er starb, als ich fünf Monate alt war. In meiner Kindheit musste ich mit meiner Mutter aus Grosny fliehen, nachdem russische Truppen unsere Wohnung zerstört hatten. Ich verstehe, wie sich ukrainische Frauen und Kinder, die ihr Zuhause verlieren, fühlen.

Owsjannikowa im August 2022 vor Gericht in Moskau, ihr wurde "Diskreditierung" der russischen Armee vorgeworfen.
Rund drei Wochen nach Kriegsbeginn hielten Sie im russischen Staatsfernsehen ein Anti-Kriegs-Plakat hoch. War es Ihre alleinige Idee?
Ja, ich sprach nur mit einer einzigen Person darüber, aber vermeintlich im Spaß. Diese Person brach nachher aus Angst den Kontakt zu mir ab. Eigentlich wollte ich im Zentrum von Moskau protestieren, aber mein Sohn bekam das mit, er nannte mich verrückt und nahm mir meine Autoschlüssel weg. Ich war so wütend, dass ich irgendetwas tun wollte.
Waren Sie überrascht, dass Sie keine Haft-, sondern nur eine Geldstrafe erhielten?
Ja, ich wurde wegen meines öffentlichen Protests im Juli zu Hausarrest verurteilt, aber nicht wegen des Posters im TV. Putin befürchtete, dass ich zur Heldin würde, wenn sie mich ins Gefängnis stecken. Sie fanden einen anderen Weg, mich kaputtzumachen, verbreiteten Verschwörungstheorien über mich.
Sie haben jahrelang für Wladimir Putins Propaganda-System gearbeitet. Wie kam es dann zum Meinungsumschwung?
Als ich 2003 beim Ersten Kanal anfing, handelte es sich um einen guten Sender mit echten Nachrichten. Nach und nach baute ihn Putin in eine Propaganda-Maschine um. 20 Jahre lang zerstörte er alle unabhängigen Medien in Russland. Geblieben sind nur die staatstreuen. Ich blieb bei dem Sender, weil mir keine Alternative einfiel und ich eine schwierige persönliche Zeit mit einer Scheidung und zwei Kindern meistern musste. Aber ich verfolgte internationale Medien und wusste, was die Realität war, dass der Kreml Lügen und Verschwörungstheorien verbreitet. Heute schäme ich mich dafür, Teil dieser Maschine gewesen zu sein.

Owsjannikowa im Februar 2023 in Paris bei einer Pressekonferenz mit "Reporter ohne Grenzen".
Ihr Protest hatte harte Konsequenzen für Sie. Bereuen Sie ihn manchmal?
Nein, denn jeder sollte sich gegen diesen Krieg erheben. Wer still bleibt, unterstützt Putins Kriegsverbrechen. Natürlich haben viele Angst vor Repressionen. Putins System baut auf dieser Angst auf. Fast drei Millionen Menschen arbeiten in Russland in den verschiedenen Polizei-Strukturen.
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung dieses Krieges ein?
Er endet an dem Tag, an dem Putin stirbt. Es ist der Krieg eines einzigen Mannes. Putin ist ein Kriegsverbrecher, der vor den Internationalen Strafgerichtshof gehört. Sein Regime muss zerstört werden und die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Dafür braucht sie Waffen und die starke Unterstützung des Westens.
Wie sehen Sie die Rufe nach Friedensverhandlungen, die in manchen europäischen Ländern laut werden?
Diese Forderungen sind unfassbar. Soll man mit einem Kriegsverbrecher und Mörder sprechen? Frieden mit Putin ist unmöglich. Sollte es zu einer Vereinbarung kommen, würde er dies nur als Pause nutzen, um seine Truppen neu aufzubauen und weiter anzugreifen – Moldau, Polen, Lettland und andere. Er will die Sowjetunion wiederherstellen.

"Zwischen Gut und Böse. Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte" (Langenmüllerverlag. 200 Seiten. 20,60 Euro).
Wie sehen nun Ihre weiteren Pläne aus?
In meinem Buch "Zwischen Gut und Böse" wollte ich aus dem Inneren beschreiben, wie das russische Fernsehen zu einer Propagandamaschine wurde. In Zukunft plane ich Projekte mit "Reporter ohne Grenzen", um mich für Frieden einzusetzen. Ich werde mich weiter öffentlich gegen Wladimir Putins Regime äußern. Meine ehemaligen Kollegen folgen mir in den sozialen Netzwerken und ich versuche, ihre Meinung zu ändern. Viele sind resigniert, da sie wissen: Wenn sie protestieren, wird er ihr Leben zerstören.
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