"Ruft nicht Buh, geht lieber zur Wahl"
Es ist beißend kalt an diesem Abend im Freien, aber in Bristow im Swing State Virginia herrscht trotzdem Rockkonzert-Stimmung. Der Wahltag ist in Sicht, und Barack Obama wird gleich auf dem Konzertgelände auftreten – immer noch der Popstar der US-Politik. 24.000 Menschen jubeln, als er auf die Bühne kommt, sie pfeifen anfeuernd, Frauen kreischen. Eine in Europa unvorstellbare Begeisterung. Aus einer Ecke ertönt erst leise „Vier Jahre mehr!“ Rasch nimmt die Menge den Ruf auf und beruhigt sich erst wieder, als Obama zu sprechen beginnt. „In diesem Wahlkampf bin ich eine Art Requisit“, ruft der in Pullover und schwarzer Jacke auftretende Präsident dem Publikum zu. „Jetzt hängt es nur von euch ab.“
Manche haben sechs Stunden gewartet, um Obama bei einer seinen letzten Wahlveranstaltungen zu sehen. Gruppen von Freunden und ganze Familien mit dem Nachwuchs im Kinderwagen sind gekommen. Eine bunte Mischung aus weißen Amerikanern, deren Nasen von der Kälte bald rot werden, großen afroamerikanische Familien und auch vielen gemischten. Eine ältere weiße Dame presst eine Decke vor ihre Brust und hält sich mit der anderen Hand an der Jacke ihres riesigen afroamerikanischen Freundes an, um ihn in der Menge nicht zu verlieren.
„Er ist ein Rockstar“
Zuerst stehen die Besucher noch ordentlich in der Schlange, kaufen Obama-T-Shirts und Wahlkampf-Buttons von den Straßenverkäufer. Nach ein paar Stunden verlieren sie aber die Geduld. Alles drängt zum Eingang. „In manchen Ländern stehen die Menschen Schlange, um Brot zu kaufen Wir stehen hier, um Obama zu erleben“, sagt eine Frau in der Menge. Alle lachen. „Obama ist ja ein Rockstar!“, erwidert jemand. „Wir hatten ja an einem Samstagabend nichts Besseres zu tun!“, meint eine Afroamerikanerin, die mit Mutter und Schwester gekommen ist. Die drei kichern. Ihre einzige Sorge war es, hineinzukommen, denn eine online erworbene Karte ist noch keine Garantie für den Einlass.
„Hello!“, begrüßt endlich gegen halb elf Altpräsident Bill Clinton die Menge. Seine Stimme ist schon wieder heiser. „Wie Sie hören können, habe ich meine Stimme dem Präsidenten gegeben“, scherzt er. Clinton verliert keine Zeit und greift Mitt Romney frontal an. „Er möchte, dass wir mit den höheren Einkommen weniger Steuer zahlen.“ – „Buh“, antwortet das Publikum.
Als der amtierende Präsident selbst aus der Kulisse tritt, lebt die Menge richtig auf. Alle, die sich auf wasserfesten Decken auf der Wiese niedergesetzt haben, springen auf. „Vier Jahre mehr!“ fangen sie an zu skandieren.
Seid ihr in Stimmung? Seid ihr bereit?
„Seid ihr in Stimmung? Seid ihr bereit?“, fragt Obama, und seine Stimme wird immer lauter. Es ist seine vierte Wahlveranstaltung an diesem Tag, er weiß, wie knapp die Umfragen sind. Obama wirkt müde, und doch scheint er seinen Auftritt zu genießen. „Ich liebe euch auch“, unterbricht er spontan seine Rede und wendet sich einer Gruppe unter dem Rednerpult zu, die gar keine Ruhe geben will. „Ich weiß, es ist euch kalt, aber lasst mich kurz sagen, was ich meine.“
Dann folgt die bekannte Liste: Dass er sich um mehr Jobs gekümmert hat, die Krankenversicherung für alle und bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen für Frauen. Er hat den Irakkrieg beendet und Osama bin Laden beseitigt. „Ja, so ist das“, rufen die Zuhörer. Als er auf die Republikaner zu sprechen kommt und wie sie das Land in eine schwierige Lage gebracht haben, schwellen die Protestrufe wieder an. „Ruft nicht Buh. Geht lieber zu Wahl“, mahnt Obama.
Sehe ich zu Mittag noch irgendwo eine Schwachstelle, kann ich sofort meine Reserven dort hinwerfen.“ Wenn Chris Redfern sich in seine Pläne für den Wahltag hineinsteigert, kippt sein Tonfall gerne ins Militärische. Verständlich, immerhin kommandiert der Parteichef der Demokraten im heiß umkämpften Ohio eine Truppe von fast 800 Angestellten und mehr als 10.000 Freiwilligen.
Die acht Millionen Wähler in diesem „Schlachtfeld-Staat“ werden mit ziemlicher Sicherheit morgen über den Präsidenten entscheiden. Der alte Spruch, „wie Ohio entscheidet, so entscheidet die Nation“, gilt diesmal mehr denn je. In Umfragen liegen Romney und Obama knapp beieinander. Chris Redfern weiß: „Wenn wir in Ohio verlieren, dann nur, weil wir die Leute nicht zum Wählen gebracht haben.“
2012 reicht es längst nicht mehr, die Bürger mit TV-Spots zu bombardieren, allein in Ohio wurden fast 50.000 ausgestrahlt. Die Strategen versuchen jeden Wähler ganz gezielt zu erreichen: „Wir haben oft in einem Haushalt eine völlig andere Botschaft für beiden Ehepartner“, erklärt Redfern. An den Mann oder eben an die Frau gebracht werden diese Botschaften per eMail, Telefonanruf, am Wahltag noch rasch per SMS, oder auf die traditionelle US-Methode: Man geht von Tür zu Tür.
Millionen Kontakte1,3 Millionen Mal, vermeldet die republikanische Gegenseite stolz, habe man an Türen geklopft, 3,7 Millionen Mal angerufen. Die Erfolgsraten, das müssen auch die Republikaner zugeben, sind nicht allzu hoch. Nur 20 Prozent der Telefongespräche werden nicht vorzeitig abgebrochen, ähnlich bescheiden ist der Erfolg bei den Hausbesuchen.
Doch die Wahlkämpfer geben nicht auf: Chris Redfern hat Dutzende freiwillige Helfer, die er am Wahltag in Gegenden schicken kann, wo zu viele potenzielle Obama-Wähler ihre Stimme schuldig geblieben sind. Es ist ein traditionelles Problem der Demokraten, dass ihre Anhänger deutlich wahlfauler sind als die der Republikaner.
„Anklopfen und rausschleppen“, beschreibt Republikaner-Chef Robert Bennett unüberhörbar abschätzig seine Methode. Für seine Partei geht es in Ohio weniger darum, potenzielle Wähler ins Wahllokal zu schleifen, sondern dafür zu sorgen, dass sie ihren möglichen Frust über Obama zur Wahl mitnehmen. „Für uns ist das ganz einfach“, erklärt Bennett die Taktik, „Jeder, der die Frage, ‚Sind sie besser dran als vor vier Jahren‘ mit Nein beantwortet, wird von uns ins Visier genommen.“
„Man kann alles herausfinden“, meint einer seiner Strategen zynisch: „Wenn die Wähler wüssten, wie viel Information wir über sie haben, wären sie ziemlich wütend.“
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