Ruanda-Deal: Großbritannien will sich über Straßburger Urteile hinwegsetzen
Die britische Regierung will den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht mehr als letzte Instanz in Menschenrechtsfragen akzeptieren. Das machte Justizminister Dominic Raab am Mittwoch im Parlament in London bei der Vorstellung eines entsprechenden Gesetzentwurfs deutlich. Das als Bill of Rights bezeichnete Gesetz werde sicherstellen, dass der britische Supreme Court in Menschenrechtsfragen künftig das letzte Wort habe, sagte Raab im Unterhaus.
Zudem solle das geplante Gesetz auch dafür sorgen, dass einstweilige Verfügungen des Gerichts mit Sitz in Straßburg in Großbritannien nicht mehr bindend seien. Ziel sei es, die britische Tradition der Freiheit zu stärken und dem System "eine gute Dosis gesunden Menschenverstands" einzuhauchen.
Hintergrund ist, dass in der vergangenen Woche der Gerichtshof für Menschenrechte einen ersten Flug mit Asylsuchenden aus Großbritannien nach Ruanda im Rahmen einer neuen Flüchtlingspolitik per einstweiliger Verfügung gestoppt hatte. Die Regierung in London hatte sich empört geäußert, da britische Gerichte zuvor in allen Instanzen Anträge für einen Stopp des Flugs abgelehnt hatten.
Die Regierung von Premierminister Boris Johnson will Menschen von der illegalen Einreise in kleinen Booten über den Ärmelkanal abhalten, indem sie ihnen den Zugang zu einem Asylverfahren in Großbritannien verweigert. Stattdessen sollen die Migranten nach Ruanda geschickt werden und dort Asyl beantragen. Eine Rückkehr ist nicht vorgesehen. Ein entsprechendes Abkommen hatte Innenministerin Priti Patel im April unterzeichnet. London hatte zugesagt, dem ostafrikanischen Land dafür zunächst 120 Millionen Pfund (knapp 140 Millionen Euro) zu überweisen.
Gipfel in Ruanda
Johnson wollte noch am Mittwoch zum Treffen der Staats- und Regierungschefs des Commonwealths in die ruandische Hauptstadt Kigali aufbrechen. Erwartet wird, dass er dort mit Thronfolger Prinz Charles zusammentrifft. Der Royal soll die neue Asylpolitik Berichten zufolge als "entsetzlich" bezeichnet haben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein europäisches Gericht, aber keines der Europäischen Union. Stattdessen gehört es zum Europarat, wo auch Großbritannien bisher weiterhin Mitglied ist. Vor dem Gerichtshof können wegen des Verdachts auf Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention Klagen gegen alle 46 Mitgliedsstaaten eingereicht werden.
Einen Austritt aus der Menschenrechtskonvention, wie ihn zuletzt Russland vollzogen hat, und den konservative Politiker in Großbritannien immer wieder fordern, lehnt die Regierung bis dato ab. Hintergrund ist unter anderem, dass die Teilnahme an der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausdrücklich in dem als Karfreitagsabkommen bezeichneten Friedensschluss in Nordirland und dem Brexit-Handelsabkommen zwischen London und Brüssel vorgesehen ist.
Aushöhlung statt Austritt
Doch statt eines Austritts droht nun die Aushöhlung, fürchten Kritiker. Die Opposition kritisierte das Gesetzesvorhaben scharf. Die rechtspolitische Sprecherin der Labour-Partei, Rachel Reeves, bezeichnete den Bill of Rights als "Schwindel". Das Gesetzesvorhaben enthebe die Regierung der Verantwortung, Menschenrechtsverstößen vorzubeugen, sagte Reeves.
Im Hinblick auf die russische Invasion in die Ukraine sagte sie: "Was für eine erstaunliche Heuchelei von dieser Regierung, anderen zu predigen, wie wichtig es ist, Rechte im Ausland zu verteidigen, während sie Briten zuhause weggenommen werden."
Auch Menschenrechtsorganisationen zeigten sich alarmiert. Amnesty International UK beschrieb den Plan als "riesigen Rückschritt für die Rechte der einfachen Menschen." Auch die Juristenvereinigung Law Society kritisierte das Gesetzesvorhaben.
Dieses führe dazu, dass einige Menschenrechtsverletzungen in Großbritannien akzeptabel würden, sagte die Präsidentin Stephanie Boyce der BBC zufolge. Außerdem verleihe es dem Staat größere Macht über seine Bürger - eine Macht, die dann alle künftigen Regierungen hätten, unabhängig von ihren Zielen und Werten.
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