Kann er das, der Martin Schulz?

Der doppelte Schulz: Die einen halten ihn für den neuen Heilsbringer, andere haben noch Zweifel an ihm
Für die einen ist Martin Schulz der neue Obama, für andere ein Blender. Ein Tag mit Fans und Zweiflern.

Irgendwie scheint die SPD das Gewinnen nicht mehr gewöhnt. "Wir haben verlernt, groß zu denken", sagt Karsten Obersteller kopfschüttelnd, dabei steigt dem SPD-Mann beinahe jemand auf den Fuß. Der Saal, den die Partei in Rendsburg unweit von Kiel für ihren neuen Spitzenkandidaten gebucht hat, platzt aus allen Nähten: 200 Sessel hat man hergestellt, gekommen sind mindestens drei Mal so viele Besucher. "Damit haben wir nicht gerechnet", sagt der Organisator entgeistert. "Es ist schließlich Mittwochvormittag!"

Der "rote Messias"

Nein, mit dem, was sich seit einiger Zeit in Deutschland tut, hat offenbar wirklich niemand gerechnet. Nicht die Basis, die sich heute im hohen Norden versammelt hat, um ihren neuen Star zu beklatschen; nicht Sigmar Gabriel, der den radikalen Schritt tat und Martin Schulz nominierte. Und vermutlich nicht mal der "rote Messias" selbst, wie seine Fans ihn hier nennen: Dass Schulz seine Partei von 20 auf 31 Prozent führen würde, dass er tatsächlich "der nächste Kanzler" werden könnte, wie er dann bei seinem Auftritt sagt, an das hat die SPD selbst schon längst nicht mehr geglaubt.

Wie sich alles so schnell drehen konnte, das fragt man sich nicht nur im Kanzleramt, sondern überall in Deutschland. Hier beim Genossen-Treffen in Rendsburg genauso wie später am Nachmittag im Norden Hamburgs, wo Schulz von wissbegierigen Schülern gelöchert wird, und ebenso am Abend, als er in Ahrensburg gut 20 Kilometer weiter nochmals für sozialdemokratische Euphorieschübe sorgt. "Er bringt Veränderung", sagt Gerda Gäger, eine grauhaarige Dame, die mit ihrer Freundin nach Rendsburg gekommen ist; sie sei kein "Parteimitglied, aber interessiert", sagt sie. "Ja, endlich Bewegung! Kein Stillstand mehr", sagt auch Ingeborg Wilhelm, die Freundin,die sich nun für die SPD begeistern lässt.

Gefühlswahlkampf

Gut, vielleicht ist es wirklich so einfach. Vielleicht hat Martin Schulz ein Fünkchen Glaubwürdigkeit mehr als Gabriel, und vielleicht hat er den Fünkchen mehr Kampfgeist als Angela Merkel nach 12 Jahren im Amt. In seinen Reden schafft er es jedenfalls, die Reihen zu begeistern, sogar zu Standing Ovations zu bewegen: Immerzu spricht er von Gefühlen, von den "hart arbeitenden Menschen", die er im Blick habe; von einfachen Dingen wie Gerechtigkeit und Gleichheit. Karsten Obersteller und seine Tochter, die extra zum Schulz-Schauen gekommen sind, nicken, als Schulz sagt "Deutschland ist ein superreiches Land, aber es geht nicht gerecht zu." Sie klatschen, als er sagt, dass ihn seine elf Jahre als Provinzbürgermeister fit fürs Kanzleramt machen würden, weil er weiß, was den Menschen wichtig sei; jedes Problem vom Friedhof bis zur Bachregulierung habe er kennengelernt. Sie lächeln, als er sagt, dass es ihm egal sei, dass er kein Abitur habe: Dass er Schule abgebrochen habe, dem Alkohol verfallen war, sich langsam nach oben gearbeitet habe, sei eben seine Geschichte. "Ich schäme mich nicht."

Das ist es wohl, was der SPD so lange gefehlt hat: Jemand, der für die vielen "Kleinen", die zur AfD abgewandert sind, wieder wählbar ist, der aber nie von den "Kleinen" spricht, sondern nur von den "hart arbeitenden Menschen". "Er ist unbelastet", sagt Karsten Obersteller mit kühlem norddeutschen Akzent. "Er hat nie einer Regierung angehört, hat nicht bei Hartz IV mitgemacht." Das ist ihm wichtig, und es ist wichtig für die meisten in der Partei: Der Spalt, den die Hartz-Gesetze Anfang der 2000er durch die SPD gerissen haben, ist bis heute nicht verheilt; die Abspaltung der Linkspartei, die Niederlage Schröders, die Jahre der Kleinheit neben Merkel, das hat sich ins rote Gewissen gefressen, die SPD mürbe gemacht. Schulz hat sich aus dieser Lethargie erheben können, weil er von außen kam, weil er nie Teil der Berliner Republik war. "Die Journalisten können ihm nix", sagt Obersteller lachend.

Andere sind sich da nicht so sicher. "Das sind nur hohle Phrasen", sagt ein Mann hinten im Saal; er sei schon lang kein SPD-Wähler mehr, sagt er. "Schulz ist auch nur ein Blender wie alle vor ihm." Auch Thore Bartsch, einer der Schüler, die Schulz am Nachmittag befragen, hat Zweifel: Ob er Schulz wählen werde, naja, das weiß er noch nicht, sagt der 18-Jährige. Zu oft sei er ihm bei seinen Fragen ausgewichen.

Dass Schulz als schwammig wahrgenommen wird, weil er noch kaum Konkretes geliefert hat, das ist die eine große Angst der Genossen. Die andere ist, dass die Wähler ihn, den "Sankt Martin" und "Gottkanzler", wie er im Netz halbironisch gehandelt wird, als belastet wahrnehmen: Dass der Spiegel nun schreibt, dass er als EU-Parlamentspräsident einen Mitarbeiter von fragwürdigen Zahlungen profitieren lassen haben soll, nagt an der Partei – es nährt die Furcht, dass er als einer jener verhassten EU-Bonzen gesehen wird, die eben nicht für die "hart arbeitenden Menschen" da sind. Damit hat die Partei schließlich traurige Erfahrung: Das ist 2013 Peer Steinbrück passiert, den die Wähler irgendwann zu überheblich fanden; das war das Schicksal Sigmar Gabriels, der als Wirtschaftsminister sein Herz nicht mehr am linken Fleck tragen und seine Versprechen nicht halten konnte.

Die große Hoffnung

"Im Dreieck gesprungen" sei sie, als sie Gabriel in der Großen Koalition zugesehen habe, sagt auch Adelheid Müller am Abend, als Schulz seinen letzten Termin absolviert. Das "Porzellansyndrom" habe Gabriel gehabt, sagt die 89-Jährige, die seit 1964 SPD-Mitglied ist – eine nette Formulierung für einen Sprung in der Schüssel.

Schulz nickt lächelnd, als ihm die ältere Dame sagt, er sei ihre große Hoffnung. "Du warst der Grund, dass ich nicht ausgetreten bin!" Hoffnung kann ihm aber auch machen, dass viele Jugendliche gekommen sind, um ihn zu unterstützen – Jugendliche der "Generation Merkel", die bisher keinen anderen Kanzler als Angela Merkel kennengelernt haben. "Martin, mach mir eine Regierung!" haben ein paar Jungsozis in Rendsburg auf ein Plakat geschrieben, das aussieht wie aus Obamas Kampagne einst.

Das "Yes, we can" des Ex-US-Präsidenten adaptiert Schulz dann auch gleich für sich. Den vielen Zweiflern werde er am 24. September nur eines sagen, meint er: "Jawohl, das kann er!" Zumindest er selbst hat bereits eine Antwort darauf, ob die SPD noch zum Großem fähig ist.

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