Auf der Flucht vor der IS: "Werden nicht zurückgehen"

Karim Quasim Hammad mit seinem Sohn: Der Kriegsinvalide lebt von der Hand in den Mund, seinen Kindern wünscht er eine Zukunft in Sicherheit – 1,8 Millionen Menschen sind im Nordirak auf der Flucht vor sunnitischen Milizen, ein Ausmaß, das die kurdische Regionalregierung völlig überfordert.
Im Nordirak droht auch wegen des nahenden Winters eine Flüchtlingskatastrophe.

Karim Quasim Hammad findet die Worte nicht. Er wählt die Hände – reibt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand aneinander. "Money", sagt der Mann mit dem dicken Schnauzer, der neben Karim im Schatten eines Jeeps auf dem Boden kauert. Es ist keine Bitte – es ist eine Frage. Seit den frühen Morgenstunden sind die beiden Männer hier. Warten. Auf Geld oder Reis oder sonst etwas. So genau wissen die beiden das nicht. Irgendjemand hat irgendwo gehört, dass heute auch Geld verteilt würde. Es gibt Reis, Öl und Hygieneartikel. Eine Ration, mit der eine Familie ein Monat knapp durchkommt. Karim steht keuchend auf, lädt hinkend Kisten auf die Ladefläche des Jeeps.

Er, Nasim – der Herr mit dem Schnauzer – und ihr Bekannter Quasim stammen aus Dörfern nahe Mossul. Als die islamistische Miliz IS anrückte, flohen sie. Erst nach Mossul-Stadt, dann, als Mossul fiel, in den Norden, und als dann auch dort die IS vorrückte, kamen sie nach Erbil. Im Dorf Shakholan nahe Erbil haben sich die drei mit ihren Familien in Hütten einquartiert.

100 Dollar pro Monat zahlt Karim Miete – für einen Verschlag mit drei Zimmern und zerborstenen Fenstern. Und daher auch die Frage: "Money?" Es ist ein monatlicher Kampf um die Miete. Wegen einer Kriegsverletzung an der Hüfte kann Karim nicht arbeiten – hat aber eine Frau und vier Kinder zu versorgen. Nasim und Quasim könnten arbeiten – finden aber keine Arbeit.

Auf der Flucht vor der IS: "Werden nicht zurückgehen"
Erbil/Flüchtlinge
Der Krieg inSyrien und imIrak hat Millionen Menschen vertrieben. 130.000 Menschen haben sich alleine zuletzt aus Nord-Syrien in die Türkei geflüchtet. 1,8 Millionen Flüchtlinge sind im Nordirak unterwegs. 250.000 alleine im Bezirk Erbil. Zum Teil leben sie in Lagern, zum Teil haben sie leere Häuser und auch Schulen besetzt, manche mieten sich ein, manche leben auf der Straße.

In Shakholan, einem Dorf mit rund 3000 Einwohnern, leben alleine 600 Flüchtlinge. "Verstehen sie, wir helfen gerne, jeder ist hier willkommen, aber wir sind auch nur arme Leute hier", sagt ein junger Dorfbewohner beinahe entschuldigend. "Wir werden mit offenen Armen empfangen, man hilft uns, wo es nur geht", sagt Karim.

Als Invalide hatte er in seinem Heimatdorf die erweiterte Familie unterstützend um sich – der Krieg, die Flucht, all das Chaos hat alles durcheinandergerüttelt. Einige Verwandte sind tot, einige konnten sich retten. Nur, wo sie sind, weiß niemand. "Mein ganzes Leben habe ich in meinem Dorf verbracht – das Dorf war mein ganzes Leben", sagt Karim. Sein dreijähriger Sohn kauert neben ihm auf dem staubigen Betonboden, spielt mit einer kaputten Fernbedienung, reißt die Batterien raus, schiebt sie ruckartig zurück in den Batterieschacht, als würde er eine Waffe laden. "Pach, pach" murmelt er im Spiel versunken.

Zu bleiben, sagt Karim, war keine Option: "Sie hätten uns getötet." Er legt die Hand auf die Schulter seines Kindes. "Wir werden bleiben, wir werden nicht zurückgehen. Was wir hören, sind nur schlechte Nachrichten." Karims Kinder sind zu jung, aber Nasims ältester Sohn hat sich bereits den kurdischen Peshmerga angeschlossen. Der Zweitälteste will dem großen Bruder folgen. Sein Vater erzählt das mit Stolz – es ist der Beitrag eines ehemaligen Tagelöhners für die Zukunft seiner Heimat: und das ist Kurdistan. "Wir müssen uns um uns selbst kümmern, die Regierung in Bagdad tut nichts, die hat uns alleine gelassen", sagt Nasim. Bagdad hat Zahlungen an die kurdische Regionalregierung vor drei Monaten eingestellt. Seither werden keine Löhne ausbezahlt.

Karim sagt: "Ich möchte, dass meine Kinder die Chance bekommen, aus ihrem Leben etwas machen zu können, dass sie lesen lernen, schreiben, dass sie in Sicherheit leben, dass der Krieg endlich vorbei ist." Krieg, das war für ihn unmittelbare Realität die vergangenen 35 Jahre. Er selbst, so sagt Karim, sei müde und erschöpft. Stille im Raum. Nur ein Ventilator brummt. Nasim und Quasim nicken schweigend. Karims Sohn ist inzwischen in den Hof gelaufen – mit seiner Fernbedienung.

Eindrücke aus Erbil

Walter Hajek ist Katastrophenkoordinator des Österreichischen Roten Kreuzes. Derzeit bereitet das Rote Kreuz im Rahmen von Nachbar in Not die Ausweitung der Flüchtlingshilfe im Irak vor. Mit dem KURIER sprach Walter Hajek über...

... den Einsatz im Irak Der Irak ist eine große Herausforderung. Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch, dass man die Situation bei Weitem nicht im Griff hat, aber in den Griff bekommen kann. Die Leute werden über den Winter kommen, sie werden Hilfe erhalten – die, die in den Lagern sind. Ein großes Problem sind die Flüchtlinge, die in leer stehenden Gebäuden, Schulen oder auf der Straße leben. Und eine große Herausforderung sind natürlich Gebiete, die von der bewaffneten Opposition kontrolliert werden.

... den bevorstehenden Winter Wir benötigen winterfeste Unterkünfte, Zelte, Container. Und natürlich Heizungen, Brennstoffe, Decken, Matratzen, Kleidung.

... die Verteilung der Nachbar-in-Not-Gelder Das Geld wird auf die Nachbar-in-Not-Partnerorganisationen aufgeteilt und – was das Rote Kreuz angeht – in Projekte des Rotkreuz-Netzwerks, das seit Jahrzehnten im ganzen Irak aktiv ist, gesteckt.

... den Umstand, dass Hilfsorganisationen im Irak seit Jahrzehnten umfassend aktiv sind Es ist sicher so, dass bestehende Netzwerke aus vorangegangenen Krisen (Irak-Iran-Krieg in den 1980er-Jahren, Golfkrieg 1990, Kurdenkrise, Invasion 2003 und Bürgerkrieg) jetzt hilfreich sind. Die Koordination unter den verschiedenen Organisationen funktioniert sehr gut.

... lokale Unterschiede im Irak Es ist sicher so, dass derzeit ein Augenmerk auf den kurdischen Gebieten im Nordirak liegt. Dessen sind wir uns bewusst. Aber Kurdistan bietet schlicht die Bedingungen, arbeiten zu können. Und wir können diese Region als Ausgangspunkt für Aktivitäten in anderen, komplizierteren und auch gefährlicheren Landesteilen nutzen.

Spenden: Nachbar in Not – IBAN: AT05 20111 40040044000; BIC: GIBAATWWXXX

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