"Kiew kann sich zum Teufel scheren"

Belagerungszustand in der Millionenstadt Donezk. Den „Krieg“, der hier herrscht, hätten „Faschisten in Kiew“ begonnen, behaupten Separatisten in der Ostukraine
Vor dem Referendum in der Ostukraine wimmelt es dort von Separatisten. Ein Lokalaugenschein.

In den Bäumen auf der Puschkin-Straße im Zentrum Donezks zwitschern die Vögel. Frauen mit Kinderwägen schlendern durch den Park, auf einer Bank knutscht ein Pärchen, und auf der daneben liest ein älterer Herr, der sich Vasyl nennt, eine Zeitung. Er lacht und freut sich über die junge Liebe und den Sonnenschein.

Ein Mann in einer schwarzen Jacke mit dunkler Sonnenbrille schlendert, konspirativ um sich blickend, vorbei. Unter der Jacke versteckt er eine Kalaschnikow – der Lauf lugt unter dem Saum hervor. Die Handvoll Polizisten, die daneben steht, schaut schnell weg. Mehr Leute mit Waffen kommen, zusammengeklebte Magazine aufgesteckt. Einige sind maskiert. Fotografiert werden wollen sie keinesfalls, wie sich herausstellt.

Die Frauen mit den Kinderwägen aber schlendern weiter; Vasyl vertieft sich nach einem kurzen Blick auf die ankommenden Kämpfer und einem Grinsen in Richtung des Pärchens wieder in seine Zeitung. Und die beiden Liebenden scheinen sowieso auf einer anderen Bewusstseinsebene zu schweben.

"Es ist längst ein Krieg"

"Kiew kann sich zum Teufel scheren"
Pro-Russian armed separatists check a journalist at gunpoint in Donetsk May 6, 2014. Both sides buried their dead on Tuesday as Ukraine slides further towards war, with supporters of Russia and of a united Ukraine accusing each other of tearing the country apart. REUTERS/Konstantin Chernichkin (UKRAINE - Tags: POLITICS CIVIL UNREST)
Das ist Donezk am Mittwoch. Vor dem besetzten Regierungsgebäude am Ende der Puschkin-Straße haben sich vielleicht einhundert Menschen eingefunden bis Mittag. Hier herrscht Belagerungsstimmung. "Es ist längst ein Krieg", sagt eine junge Frau. Eröffnet hätten ihn "die Faschisten in Kiew". Sie brüllt – denn aus Lautsprechern tönen patriotische Lieder auf die "Volksrepublik Donbass" – schwerer russischer Rock, gesungen von einer Stimme, die nach filterlosen Zigaretten und selbstgebranntem Schnaps klingt.

Es ist nicht so klar, wer dieser Tage die Kontrolle über diese Millionenstadt hat. Am Dienstag hatten schwer bewaffnete Separatisten ohne Probleme eine Militärakademie in einem Vorort Donezks umstellt. Im besetzten Regierungsgebäude sagt ein Aktivist höflich, aber bestimmt: "Mehr oder weniger haben wir die Kontrolle über den gesamten Donbass." Und darauf folgt in milden Worten ausgedrückt so etwas wie: "Kiew kann sich hier zum Teufel scheren." All das, während die ukrainische Armee in den umliegenden Städten Slowjansk und Kramatorsk eine Offensive durchführt.

Es ist aber weniger ein Konflikt, in dem Schützengräben oder Stellungen zählen, als einer, in dem die komplizierten sozialen und ökonomischen Geflechte der Region ausschlaggebend sind: Allianzen. Da sind auf der einen Seite die Separatisten, die ihrerseits aus verschiedenen Fraktionen und Milizen bestehen, dann sind da lokale Behörden, deren Loyalitäten und Beziehungen zum lokalen Unternehmertum nicht immer restlos klar sind. Und dann ist da Rinat Achmetow, der mächtigste Geschäftsmann der Region. Er hat der Zentralregierung in Kiew zwar seine Gefolgschaft erklärt, aber daran gibt es erhebliche Zweifel.

Kommenden Sonntag soll nach dem Wunsch der Separatisten im gesamten Donbass ein Referendum über die Unabhängigkeit stattfinden. Auch wenn Putin eine Verschiebung fordert (siehe unten). Denys Kazansky, Journalist bei der Wochenzeitung Tyzhden, ist sicher, dass es trotzdem stattfinden wird. Aus seiner Sicht befindet sich das Land längst im Bürgerkrieg – einer mit schwierigen Frontlinien, die zwischen sozialen Gruppen, Generationen oder Ideen verliefen. Letztlich, so sagt er, sei es ein Krieg zwischen der Ukraine und der "Sowjetunion". Denn die Separatisten wollten viel eher eine Wiederbelebung der UdSSR, als eine Zugehörigkeit zu Russland.

"Faschisten"

"Sie sind es, die unser Wasser vergiften", sagt eine Frau vor dem besetzten Regierungsgebäude. "Faschisten, die uns die Armee schicken, um uns zu töten." Sie und die Faschisten, das ist Kiew aus ihrer Sicht. Die drahtige Frau mit geschwollenem Gesicht trägt Karate-Handschuhe am Gürtel. Um die Ecke, auf einem breiten Boulevard, stehen derweil Autos im Stau, Studenten machen eine Rauchpause vor ihrer Fakultät und albern über die Kämpfer mit ihren Masken und Schutzwesten um die Ecke. Es sind Späße mit einem bitteren Nachgeschmack. Denn die Waffen sind geladen, die Molotowcocktails stehen bereit, und was morgen passieren wird, ist ungewiss. Am Freitag finden die Feiern zum Jahrestag des Sieges der Sowjetunion gegen Nazideutschland statt – ein für Russland und auch in der Ostukraine großer Feiertag, an dem Unruhen erwartet werden.

Vasyl hat sich von seiner Bank erhoben. Er geht langsam über den Platz vor dem Regierungsgebäude, die Zeitung in einem Plastiksack. "Es ist an sich schon okay, was die hier machen", sagt er auf Ukrainisch. "Aber zu weit sollten sie halt nicht gehen." Er erzählt Geschichten aus seiner Armeezeit in Georgien, Weißrussland und wie die Zeit alle Wunden heilt. "Sie", so sagt er, "werden einmal über all das hier lachen – ich werde nicht mehr dazukommen."

Russlands Präsident Wladimir Putin traf am Mittwoch mit dem Präsidenten der OSZE, Didier Burkhalter, zusammen. Nach dem Treffen stimmte der starke Mann im Kreml versöhnliche Töne an: Nach eigenen Angaben ließ Putin sein Militär von der Grenze zur Ukraine abziehen, wie Interfax berichtete. Dort sind 40.000 russische Soldaten stationiert - und entgegen vorherigen Beteuerungen Moskaus blieben sie bis dato auch dort. Auch dieses Mal hat die NATO noch keine Hinweise darauf, dass die Truppen ihre Position verändert hätten, sagte Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Mittwoch bei einem Besuch in Warschau.

"Kiew kann sich zum Teufel scheren"
Russian President Vladimir Putin (R) shakes hands with Swiss President and Foreign Minister Didier Burkhalter during a meeting at the Kremlin in Moscow, May 7, 2014. Putin said on Wednesday he was ready to discuss a way out of the Ukrainian crisis with the head of the Organisation for Security and Co-operation in Europe. REUTERS/Sergei Karpukhin (RUSSIA - Tags: POLITICS)
Putin forderte auch die Verschiebung des umstrittenen Referendums im Osten der Ukraine. Am Sonntag sollte es stattfinden und entscheiden, ob im Osten eine Loslösung vom Kiew erfolgt und die eigenständige "Volksrepublik Donezk" entsteht. Doch Putin: Es müssten erst die Bedingungen dafür geschaffen werden, ein Dialog zwischen der Übergangsregierung in Kiew und den Separatisten sei der Schlüssel für ein Ende der Krise. Die Interessen aller Ukrainer müssten berücksichtigt werden, sagte Putin. Auch für die Abhaltung der ukrainischen Präsidentenwahlen, die für 25. Mai geplant sind, sei ein Ende der Gewalt die notwendige Voraussetzung, betonte er. Ein von Angela Merkel vorgeschlagener „Runder Tisch“ mit allen Konfliktparteien werde erwogen. „Wir unterstützen dies und halten das für einen guten Vorschlag“, so der russische Präsident.

Ob die Abstimmung nun abgehalten wird, war zunächst noch unklar. Sofort nach Putins Aufruf betonten die Separatisten, den Vorschlag des Kremlchefs prüfen zu wollen. Am Donnerstag werde dies bei der geplanten Volksversammlung beraten, sagte Denis Puschilin, einer der Anführer. "Wir haben höchsten Respekt vor Putin", legte er nach. Der aussichtsreichste Kandidat für die Präsidentenwahl in der Ukraine, Pjotr Poroschenko, begrüßte Putins Vorstoß. "Ich glaube, das ist eine großartige Nachricht für die Stabilisierung der Situation in der Ostukraine", sagte er im ZDF.

Verhaltenes Lob

Die USA haben die Forderung Putins, das umstrittene Unabhängigkeitsreferendum in der Ostukraine zu verschieben, als "hilfreichen Schritt" bezeichnet. Zu allzu großem Lob ließ sich die Sprecherin im US-Außenamt, Jen Psaki, am Mittwoch allerdings nicht hinreißen.

Die Krise in der Ukraine steht am Donnerstag auch im Mittelpunkt eines Gipfeltreffens Putina mit Staats- und Regierungschefs von früheren Sowjetrepubliken.

Explosionen in Slawjansk

Indes dreht sich die Gewaltspirale in der Ostukraine weiter. Am Stadtrand von Slawjansk kam es nach Angaben der Gegner der pro-westlichen Kiewer Regierung zu zwei schweren Explosionen. Über mögliche Opfer war zunächst nichts bekannt. Die Gefechte konzentrierten sich auf den Fernsehturm im Stadtteil Andrejewka, der am Montag von Einheiten der Kiewer Führung eingenommen worden war. "Wir erobern die Kontrollposten zurück", behauptete ein Separatistensprecher. Eine Bestätigung der Regierung für die neuen Kämpfe gab es zunächst nicht. Bewohner berichteten von Sturmgeläut als Warnung, sich in Sicherheit zu bringen.

Kämpfe gab es auch in der Hafenstadt Mariupol nahe der Grenze zu Russland. Medienberichten zufolge hat dort die Nationalgarde nach heftigen Kämpfen in der Nacht auf Mittwoch das von Separatisten besetzte Rathaus zurückerobert. Die Rebellen hatten zuvor die wichtigste Straße der ostukrainischen Stadt mit brennenden Reifen und einem angezündeten Bus blockiert.

Gegen die 120.000-Einwohner-Stadt Slawjansk im Norden des Gebiets Donezk gehen Regierungstruppen seit Tagen mit Panzerfahrzeugen und schwerer Gefechtstechnik vor. Bei der "Anti-Terror-Operation" im russisch geprägten Osten des Landes starben nach Informationen beider Seiten bereits zahlreiche Menschen, Dutzende wurden verletzt.

Am Mittwoch erfolgte aber noch ein Gefangenenaustausch beider Seiten: Ein Anführer der prorussischen Separatisten ist nach deren Angaben im Austausch gegen drei Mitglieder der Sicherheitskräfte freigelassen worden. Pawel Gubarew, der den Aufruhr im Gebiet Donezk über seine Facebook-Seite mit organisiert hatte, war im März inhaftiert und nach Kiew gebracht worden. Ein Sprecher der Führung der Separatisten in Slawjansk sagte, es habe sich um den Austausch von Kriegsgefangenen gehandelt.

NATO überlegt dauerhafte Stationierung

Die NATO erwägt nun eine dauerhafte Stationierung von Soldaten in Osteuropa. "Über diese Idee muss man nachdenken, und wir werden sie zur Diskussion bei unseren Mitgliedern stellen", sagte NATO-Oberkommandant Philip Breedlove am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Ottawa. Die NATO hatte nach ihrer Ost-Erweiterung davon abgesehen, permanent Truppen und Gerät in Ländern des früheren Warschauer Pakts zu stationieren.

Am Montag hatte Breedlove gesagt, dass er mittlerweile einen Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine für wenig wahrscheinlich halte. Er gehe eher davon aus, dass Putin auf eine Invasion verzichten werde, um stattdessen die Ostukraine durch die Diskreditierung der Kiewer Regierung und durch Unruhestiftung zu destabilisieren. Auf diese Weise könnte Putin den Boden für eine Annexion nach dem Vorbild der Krim bereiten.

Kiew erhielt erste Geldspritze vom IWF

Die Ukraine hat inzwischen die ersten Milliarden vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten. Eine Tranche in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar (2,29 Milliarden Euro) sei am Dienstag eingegangen, teilte die Zentralbank am Mittwoch in Kiew mit. Gut eine Milliarde Dollar legt die Zentralbank nach Angaben ihres Sprechers als Währungsreserve zurück. Der Rest fließe in den Staatshaushalt. Der IWF hat der Ukraine insgesamt 17 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von zwei Jahren zugesagt. Die Finanzhilfen sind an Reformzusagen der ukrainischen Führung gekoppelt.

Sanktionen zeigen Wirkung

Die bisher gegen Russland verhängten Sanktionen scheinen indes zu greifen; die Maßnahmen hätten zu einer massiven Kapitalflucht geführt und das russische Wirtschaftswachstum fast auf Null gedrückt, sagte US-Finanzstaatssekretär Daniel Glaser am Dienstag (Ortszeit) bei einer Kongressanhörung. Er warnte aber zugleich vor einer weiteren Verschärfung der Sanktionen, wenn Moskau nicht aufhöre, sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen. Mit Anwendung des vollen Sanktionsspektrums sei es möglich, "die Schwäche und Verletzlichkeit der russischen Wirtschaft bloßzustellen".

Die USA hätten mit ihren Sanktionen darauf gezielt, "Russland sofort Kosten aufzubürden", sagte Glaser. "Russland fühlt bereits die Wirkung der Maßnahmen." So seien die Kurse am russischen Aktienmarkt um 13 Prozent gefallen und die Zentralbank sei gezwungen gewesen, zur Unterstützung des Rubel 50 Milliarden Dollar (35,9 Milliarden Euro) einzusetzen. Zudem seien die Kreditkosten für Moskau inzwischen so stark gestiegen, dass die Regierung einen Verkauf von Schuldverschreibungen am 23. April habe abbrechen müssen. Hinzu komme die massive Kapitalflucht, die in diesem Jahr zwischen 100 und 130 Milliarden Dollar erreichen dürfte, sagte Glaser. So habe die Rossija Bank, die einen bedeutenden Teil des Vermögens des Machtzirkels um Präsident Wladimir Putin verwalten soll, eine Milliarde Dollar an Einlagen verloren.

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