Untergangsstimmung in den Straßen Bagdads

Viele Familien verlassen die irakische Hauptstadt. Offiziell fahren sie auf Urlaub. Tatsächlich geht die Angst um, die sunnitischen Gotteskrieger der ISIS könnten die Tigris-Metropole einnehmen.

Elf Jahre älter, verängstigt, mit gebeugtem Rücken, steht er vor mir in der Hotel-Lobby: "Madame Antonia", flüstert er, "es hat sich hier nicht viel geändert seit damals!"

Damals, das war 2003, als der Mann als Sicherheitsbeamter von Saddam Hussein im Hotel Palestine an Bagdads Tahrir-Platz zusammen mit mir und anderen auf die Amerikaner wartete. Jetzt harren wir wieder, auf die nächste Invasion, die der Islamisten. Geändert hat sich insofern nichts, als heute in der Hotellobby mehr Geheimdienstler als Gäste sitzen. Das Internet ist seit einigen Tagen verlangsamt, Twitter, Facebook sind ganz gesperrt. Überall Straßenkontrollen. Mit heulenden Sirenen und Leibwächtern rasen Geschäftsleute und Politiker durch die Viertel. Wer Geld hat in Bagdad, steckt es in die Sicherheit. Leute wie mein Gesprächspartner hingegen, relativ mittellos, ergeben sich ihrem Schicksal: "Alles wie früher", wiederholt der Mann. "Nur waren unter Saddam die Sunniten an der Macht. Jetzt sind es eben die Schiiten."

Iraks schiitischer Ministerpräsident al-Maliki hat nicht denselben schlechten Ruf, wie Saddam ihn hatte. Weit davon entfernt ist er nicht. Anstatt die Bevölkerung des Irak zu versöhnen, spaltet er sie immer mehr. Sunniten sind von wichtigen Ämtern ausgeschlossen. Wer Schiit ist, hat es heute leichter. Schiiten sind die Bevölkerungsmehrheit des Landes.

Schlechte US-Investition

Untergangsstimmung in den Straßen Bagdads
Rados im Irak - mit schiitischen Stammesführern
Die Amerikaner sind zum Teil nicht unschuldig an der "Spaltung" des Irak. Lange ließen sie al-Maliki gewähren. Erst, als er ihnen 2011 widersprach und den totalen Abzug aller US-Truppen forderte, wandte sich Präsident Obama von ihm ab. Die Rechnung bekommt al-Maliki jetzt serviert: Schon Anfang 2014 fielen wichtige Städte wie Falludja und Ramadi im Westen unter die Kontrolle der Islamisten. Vergeblich bat al-Maliki Washington um Hilfe. Ramadi und Falludja sind seither fest in der Hand von ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien). Zusätzlich erwiesen sich die zehn Milliarden Euro, die von den USA für das Training der Armee und Polizei ausgegeben wurden, als schlechte Investition. Iraks Uniformierte können gerade Kontrollposten halten – mehr nicht. Al-Maliki hat eine unfertige Armee geerbt. Sie ist weiter von westlichem Know-how und westlicher Hilfe abhängig. Gut für private Sicherheitsfirmen, die so heute noch Millionen im Irak verdienen, wie ein britischer Sicherheits-Multi mit der Überwachung des Flughafens von Bagdad.

Al-Maliki hat noch andere Feinde als die USA. Den Kurden des Nordirak käme der Zerfall des Landes gelegen. Nur so bekämen sie ihren eigenen Staat. Jedes Kind in Bagdad ahnt, der Zerfall von al-Malikis Reich ist vielleicht schon im Gange – wie der von Syrien, wie der des Jemen. Wie der des ganzen Nahen Ostens. Was dann kommt, will sich niemand vorstellen.

Stammesführer ratlos

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Volunteers, who have joined the Iraqi Army to fight against predominantly Sunni militants from the radical Islamic State of Iraq and the Levant (ISIL), gather with their weapons during a parade in the streets in Al-Fdhiliya district, eastern Baghdad June 15, 2014. The insurgent offensive that has threatened to dismember Iraq spread to the northwest of the country on Sunday, when Sunni militants launched a dawn raid on a town close to the Syrian border, clashing with police and government forces. REUTERS/Thaier Al-Sudani (IRAQ - Tags: CIVIL UNREST POLITICS MILITARY CONFLICT)
Wie die Islamisten stoppen? Nicht einmal Stammesführer, herbeigeeilt aus dem Süd-Irak, scheinen überzeugt, das Rad der Geschichte aufhalten zu können. Ich treffe sie in einer Sammelstelle für Kämpfer. Gerade wird gegessen. Tee getrunken in Ruhe. Al-Maliki hat gerufen, und man ist nach Bagdad geeilt. Stämme sind im Irak beinahe wichtiger als die Religion. Wer die Stämme gegen sich hat, hat schon verloren.

Auch die radikalen Islamisten stützen sich in den eroberten Gebieten auf die Stämme – halt die der Sunniten. Ehemalige Saddam-Anhänger wollen da nicht nachstehen. Auch sie sind die ungewohnten Verbündeten von ISIS.

"Wir werden Bagdad niemals aufgeben", sagen mir die Stammesältesten. "Einheit! Ein Irak für alle!" Unter den Männern ist aber kein Sunnit. Sie alle sind Schiiten. Egal, in dem verworrenen Religions- und Stammes-Geflecht des Irak haben alle eines gemeinsam: ein gutes Gedächtnis. Rache für vergangene Taten, auch wenn sie Jahrzehnte zurückliegen, zieht sich wie ein roter Faden durch die irakische Geschichte.

Die Rache, die nun allen Angst einjagt, ist die von "Daasch" – das arabische Wort für ISIS. Das Wort geistert durch die Köpfe. Daasch! Daasch – der Horror! Vielleicht sind die Fundis schon in den Sunniten-Bezirken Adamya oder im Viertel um den Flughafen? Bei jedem Knall einer Autobombe hält die ganze Stadt den Atem an.

Flucht aus Bagdad

Untergangsstimmung in den Straßen Bagdads
Zahlreiche Familien verlassen bereits Bagdad – angeblich, um auf Urlaub zu fahren. Die meisten werden nicht zurückkommen, denn sollte Daasch tatsächlich Bagdad erobern, wird ein Blutbad erwartet: Horrormeldungen machen die Runde. Nach der Erstürmung der nordirakischen Stadt Mossul hätten die Islamisten Polizisten exekutiert. Gefangene seien verschwunden: "Mein Neffe war in Mossul im Gefängnis", erzählt mir Hassan. "Er ist Schiit. ISIS hat alle Gefangenen befreit und jeden nach seiner Religion gefragt." Von dem Neffen habe er seither kein Lebenszeichen mehr.

Die offiziellen Dementis klingen längst nur noch halbherzig. Anonym dagegen werden US-Regierungsvertreter inzwischen deutlich: Ja, die direkten Kontakte zwischen Washington und Teheran laufen. Es geht um eine rasche und zumindest koordinierte Antwort auf die Eskalation im Irak – und die müssen die beiden Erzfeinde so rasch wie möglich finden.

Die erste Möglichkeit für eine schnelle direkte Kontaktaufnahme ist seit Montag Wien. Bei der jüngsten Runde der Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm traf Irans Außenminister Mohammed Dschawad Sarif auf seine westlichen Verhandlungspartner: Die fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland. Aus Washington reiste Vizeaußenminister William Burns an – und der hatte einen ziemlich deutlichen Auftrag von Präsident Obama im Gepäck. Ohne den Namen des offiziell ja verfeindeten Regimes in Teheran auszusprechen, hatte der am Wochenende die Nachbarn des Irak aufgefordert, ihre Verantwortung in der Krise wahrzunehmen. Man müsse Bagdad beim Kampf gegen die ISIS unterstützen: "Niemand hat einen Vorteil davon, wenn er dabei zusieht, wie der Irak im Chaos versinkt."

Ans Zusehen denkt man in Teheran ohnehin nicht. Präsident Rohani hat der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad, die unter Teherans Einfluss steht, bereits öffentlich Hilfe versprochen. Und diese Hilfe ist offensichtlich auch militärisch.

Al-Quds-Brigaden

Der Kommandant der auf Auslandseinsätze spezialisierten Al-Quds-Brigaden soll sich bereits in Bagdad aufhalten. Die ersten der ihm unterstehenden Einheiten sollen in die Kampfzonen des Nachbarlandes unterwegs sein. Wie auch in Syrien sieht man in Teheran den aktuellen Konflikt als eine Konfrontation zwischen dem schiitischen Islam, mit dem Iran als führendem Staat, und radikalen sunnitischen Bewegungen, wie etwa El Kaida, oder eben auch die mit ihr einst eng verbündete ISIS. Dafür schickt man nicht nur die eigenen paramilitärischen Kräfte in die Schlacht, sondern vor allem die ohnehin am Gängelband Teherans agierende libanesische Hisbollah. Sie soll dem angeschlagenen Assad-Regime an mehreren Kriegsschauplätzen entscheidend geholfen haben.

Für Washington galt das Eingreifen des Iran bisher als militärische Aggression, der man entgegentreten musste. Doch je stärker die Islamisten der ISIS den Krieg gegen Assad und nun auch im Irak dominieren, desto mehr ist man von dieser Haltung abgerückt. Auch Washington überlegt nun bereits militärische Unterstützung für Bagdad. Die Obama-Regierung, die sich für den Abzug aus dem Irak feierte, hat neben einem Flugzeugträger ein weiteres Kriegsschiff in den Persischen Golf entsandt und ihre Militärs offensichtlich bereits angewiesen, Bombenangriffe, zumindest durch ferngelenkte Drohnen, vorzubereiten. Teheran freut sich jetzt schon unüberhörbar über die Unterstützung durch den Erzfeind Washington. Für die USA eine mehr als heikle Partnerschaft.

Seit zehn Jahren ziehen die Kämpfer der ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) – unter wechselndem Namen – eine Blutspur hinter sich her. Sie haben in den vergangenen Jahren Zigtausende Iraker bei Anschlägen, Entführungen und Hinrichtungen ermordet und Tausende Menschen im Bürgerkrieg in Syrien. Die sunnitischen Gotteskrieger der ISIS, die aus dem Mittleren und Nahen Osten, aus Tschetschenien und auch Europa stammen, sind für ihre Brutalität berüchtigt. Ihr Ziel: ein islamisches Kalifat auf dem Gebiet Syriens und des Irak – und darüber hinaus.

Untergangsstimmung in den Straßen Bagdads
epa000269328 Top former Baath official and deputy to deposed Iraqi president Saddam Hussein, Izzat Ibrahim al-Douri, was arrested Sunday, 05 September 2004 an Iraqi Defence Ministry source confirmed to al-Arabiya television. Izzat Ibrahim al-Douri is the King of Clubs in this US Department of Defence handout photograph and number six on the list of 55 most-wanted Iraqis. EPA/US DEPARTMENT OF DEFENSE
Nur zehn- bis zwölftausend Mann stark soll die ISIS-Miliz sein. Was macht sie so mächtig, dass sie 60 Kilometer vor Bagdad steht? Ein entscheidender Faktor ist der Frust der sunnitischen Stämme über die leeren Versprechungen von Iraks Premier al-Maliki, einem Schiiten: Die Zahl der desertierten Soldaten in diesen Provinzen beträgt ein Vielfaches der ISIS-Kämpfer. Zudem mischt offenbar der Stellvertreter des gehenkten Ex-Diktators Saddam Hussein auf Seiten der ISIS mit. Izzet Ibrahim al-Duri, "Kreuz-König" im US-Kartenspiel der gejagten Iraker 2003, soll eine entscheidende Rolle spielen.

Machtspiele der Golfstaaten

Neben den Verbündeten vor Ort haben finanzstarke Unterstützer in der Region die ISIS stark gemacht – vor allem in den sunnitischen Golfstaaten Saudi-Arabien, Kuwait und Katar. Selbst wenn keine staatliche Unterstützung geflossen sei, so hätten die Länder doch zu wenig gegen den Spendenfluss an die Gotteskrieger unternommen. Faktum ist, dass Saudi-Arabien und Katar viel Geld und Waffen nach Syrien geschickt haben, um mit dem Sturz von Diktator Assad dessen Unterstützer Iran zu schwächen. Davon hat die ISIS profitiert. Ihre Kriegskasse haben die Gotteskrieger zudem mit Wegezoll, Schutzgeld, Erpressung und Entführung aufgefüllt. Bereits vor der Eroberung der nordirakischen Stadt Mossul soll ISIS Bargeld und Anlagen im Wert von 875 Millionen Dollar gehabt haben. In Mossul kam laut einem Informanten des Guardian noch Geld und Kriegsgerät im Wert von 1,5 Milliarden Dollar dazu.

In Scharen verlassen die Menschen Bagdad, 60 Kilometer vor der Stadtgrenze wird gekämpft. Dort lieferte sich die ISIS-Miliz am Montag heftige Kämpfe mit der Armee. Beide Seiten beklagen mehrere Todesopfer. Auch in Bagdad selber gab es Tote – durch Selbstmordanschläge. Beim internationalen Flughafen der Hauptstadt soll es in der Nacht auf Montag Kämpfe gegeben haben. Doch die Armee hätte die Kontrolle über den Airport behalten, berichtet Al Arabiya.

Einen neuen Rückschlag für die Regierung gab es weiter nördlich: Nachdem die Armee erst vor wenigen Tagen eine Offensive gegen die vordringende ISIS im Norden und Osten des Landes gestartet hatte, will diese eine weitere Stadt eingenommen haben.

Tal Afar ist eine schiitische Enklave in der mehrheitlich sunnitischen Provinz Nineve, die in der vergangenen Woche fast gänzlich unter die Kontrolle der ISIS gefallen ist. Dort, wenige Kilometer von Mossul entfernt, leisteten bis zuletzt Regierungstruppen den Dschihadisten Widerstand. Glaubt man Berichten der ISIS und einiger Einwohner, ist seit Montag auch Tal Afar unter Kontrolle der Sunniten-Miliz.

Kurden-Angebot

Rund 400 Kilometer südöstlich von Tal Afar ist am Sonntagabend ein Bote der Dschihadisten-Miliz aufgetaucht. "Wenn ihr uns nicht angreift, greifen wir auch nicht an", soll er dort den kurdischen Kämpfern angeboten haben.

Als die ISIS vorige Woche im Nordosten vorstieß, bat die irakische Armee die "Peshmerga" genannte kurdische Armee um Hilfe. Daraufhin gewann die Kurden-Armee Teile der ölreichen Provinzen Nineve und Diyala zurück, die bisher in irakischer Verwaltung standen.

Nun kündigte das kurdische Verteidigungsministerium an, die Gebiete nicht mehr hergeben zu wollen. Laut der Nachrichtenseite Al-Sumaria News wolle man erzwingen, dass der Artikel 140 der – von den USA nach dem Sturz Saddam Husseins geschriebenen – irakischen Verfassung zur Anwendung kommt. Dieser besagt, dass in den Provinzen Kirkuk, Salaheddin, Nineve und Dijala Referenden über die Zugehörigkeit zur kurdischen Autonomieregion abgehalten werden soll. Bisher hat es noch keines gegeben.

Terrorzelle gesprengt

Im Kampf gegen die Terrormiliz konnten auch Erfolge vermeldet werden. So berichtete der Guardian, dass irakische und amerikanische Agenten derzeit Datenmaterial über ISIS auswerten, das nach einem Verhör gefunden wurde. Darunter seien Codenamen, Initialen von Informanten, Geheimcodes und die Finanzdaten der Gruppe.

Zudem ist in Madrid am Montag eine Terrorzelle zerschlagen worden, die Kämpfer für ISIS angeworben haben soll. Acht Verdächtige aus Marokko, Spanien und Argentinien seien festgenommen worden, berichtet El Pais.

Nach der jüngsten Eskalation der Gewalt im Irak ziehen die Vereinten Nationen einen Teil ihres Personals aus der Hauptstadt Bagdad ab. 58 Mitarbeiter würden das Land verlassen, sagte ein UN-Sprecher am Montag in New York. Für weitere der insgesamt 200 Mitarbeiter gebe es ebenfalls Pläne, sie demnächst abzuziehen und vorübergehend an sicherere Orte zu bringen.

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