Reisewarnungen als Gefahr für die Stabilität
Tunesien gilt für den so genannten Westen als Schlüsselland der Region Nordafrika. Nach den Aufständen des „ Arabischen Frühling“ ist es das einzige Land, in dem sich glaubhaft echte Demokratie durchgesetzt hat. Doch der Übergang ist schwer. Seit fünf Jahren kämpft das Land um Stabilität, um Aufschwung, um die Rückkehr ausländischer Investitionen und Touristen. Doch Chaos, Unsicherheit in der Region – vor allem in Libyen – und Terroranschläge warfen das Land wieder zurück.
Im Vorjahr wurde dem Nationalen Quartett für den Dialog in Tunesien der Friedensnobelpreis verliehen. Denn ohne die Kooperation von Arbeitgebervertretern, Arbeitnehmervertretern, Menschenrechtsliga und Rechtsanwaltskammer hätte es 2011 wohl keine Einigung gegeben. Abdessatar Ben Moussa ist Teil des Quartetts. Mit dem KURIER sprach er über...
...die konkreten Errungenschaften der Revolution
"Die allererste Errungenschaft – die größte – ist die Meinungsfreiheit. Unter Ben Ali (dem ehem. Präsidenten, Anm.) hat keiner seine Meinung aussprechen können. Auch die Versammlungsfreiheit ist sehr wichtig. Und jeder kann jetzt Parteien und Vereinigungen gründen. Aber auch kritisieren. Wir haben eine Demokratie, eine Verfassung, und ganz wichtig: eine Machtrotation mit freien Wahlen."
...die fehlenden Entwicklungen
"Aber natürlich fehlt noch Vieles. Zwar ist in der Infrastruktur schon viel getan worden, aber die Jugend ist nach wie vor marginalisiert. Sie hatte für Freiheit, Würde und Brot demonstriert. Erreicht wurde die Freiheit. Nicht mehr und nicht weniger. Wir haben nach wie vor eine hohe Arbeitslosigkeit, zu wenig Chancen und Perspektiven für die Jungen. Im öffentlichen Dienst gibt es keine Stellen mehr, der ist ohnehin schon aufgebläht. Also brauchen wir den Privatsektor. Aber es gibt zu wenig Investitionen. Wir brauchen neben der politischen auch die soziale Transformation."
... mögliche Hilfe aus Europa
"Tunesien hat einen Schuldenberg. Es wäre schon viel geholfen, das umzuschulden, oder in Investitionen umzuwandeln. Wir stoßen immer auf Verständnis – vor allem von Seiten der EU – wenn es um unsere schwierige wirtschaftliche Situation geht. Aber die Versprechungen werden dann leider nur im Kleinen umgesetzt."
...einen „Marshall-Plan“ für Tunesien
"2017 wird ein schweres Jahr, denn da müssen wir viele Schulden zurückzahlen. Wenn wir keine Unterstützung bekommen, ist der Demokratieprozess in Gefahr. Das wiederum wäre eine Gefahr für die Region, aber auch für Europa – ich spreche von illegaler Migration oder Terrorismus. Man hört schon jetzt wie schwer der Umgang mit Flüchtlingen in Europa ist. Sie sind eine Last für die Gesellschaft, für den Staat. Daraus resultieren Hass und Rassismus. Und daraus resultieren Gewalt und Terrorismus. Die weitere Entwicklung Tunesiens ist also in unser beider Interesse. Ich weiß, dass über eine Art „Marshall-Plan“ geredet wird. In Griechenland wurde die Wirtschaft gerettet. Warum nicht auch in Tunesien?"
... Reisewarnungen für Tunesien
"Wir würden uns freuen, wenn die Touristen nach Tunesien zurückkämen. Das würde Jobs und damit auch Stabilität bringen. Doch viele europäische Staaten geben Reisewarnungen aus. Ja, es gab Terroranschläge im Vorjahr, aber jetzt ist es wieder ruhig. Vor Reisen nach Frankreich oder Belgien – wo große Terroranschläge passiert sind, wird nicht gewarnt. Das verstehe ich nicht."
(Das österreichische Außenministerium rät von reisen nach Tunesien ab – Stufe 3 – und Reisewarnung – Stufe 5 – gilt für die Saharagebiete. Für Frankreich und Belgien gilt Stufe 2 – erhöhtes Sicherheitsrisiko, Anm.)
...Nachbar Libyens Terrorismusproblem
"Ich begrüße den Einsatz der libyschen – international anerkannten – Regierung, mit internationaler Unterstützung den IS und den Terrorismus zu bekämpfen. Doch natürlich besteht die Gefahr, dass Terroristen nach Tunesien einsickern. Zusammen mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage birgt das selbstverständlich Gefahren. Jugendliche könnten sich dem IS anschließen. Doch nicht aus ideellen Gründen, sondern vielmehr aus finanziellen. Der IS erklärt ihnen, sie bekommen Arbeit und Geld. Von Kampf ist meist gar keine Rede. Und das alles passiert mit dem Wissen von ausländischen Staaten. Den USA entgeht ja nichts. Die eigentliche Gefahr für Tunesien ist aber nicht die Jugend, die sich dem IS anschließt, sobndern die Jugend, die auswandern will. Die Kluft zwischen Nordafrika und dem vermeintlichen Westen ist zu groß. Die jungen Menschen nehmen den Tod auf sich, um nach Europa zu gelangen. Mit wirtschaftlicher Hilfe für Tunesien würde dem Einhalt geboten werden."
... die Menschenrechte in Tunesien
"Das alte Anti-Terror-Gesetz wurde oft missbraucht, um feindliche Parteien zu verbieten. Doch das neue Gesetz aus dem Vorjahr ist nicht unbedingt besser. Viele Artikel sind in sich Menschenrechts-Verletzungen, andere erlauben solche. Etwa, dass man Verdächtige 15 Tage – statt 48 Stunden – festhalten kann. Oder dass es keine Gegenüberstellung, keine kontradiktorische Befragung gibt in der Verhandlungsführung. Die Bedinungen für die Überwachung sind nicht gut geregelt."
...die Todesstrafe
"Die Menschenrechtsliga kämpft weiterhin dafür, die Todesstrafe in Tunesien aufzuheben. Im Terrorgesetz kommt sie noch in 20 Passagen vor."
...Homosexuellen-Rechte
"Kein Gesetz verbietet die Liebe zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau. Aber gewisse Sexpraktiken. Doch die Zur-Schau-Stellung von Sexualität wird in der Gesellschaft nicht toleriert – allerdings auch jene von heterosexuellen Paaren."
...die Situation der Frau
"Politisch und rechtlich gesehen geht es der tunesischen Frau sehr gut. Auch die Verfassung legt deren Gleichstellung fest. Wir haben Frauen in allen Lebensbereichen – sechs Ministerinnen und Staatssekretärinnen, viele Ärztinnen, Richterinnen, Frauenquoten bei Wahlen. Auf der sozialen Ebene sieht es noch etwas anders aus. Es gibt (häusliche) Gewalt an Frauen. Aber nicht wegen den Gesetzen, sondern aus Mentalitätsgründen. Doch im Strafgesetz wurden die Maßnahmen bei Übergriffen gegen Frauen verschärft. Da hat sich einiges verbessert."
...Verbote von Verschleierung
"Der Niqab und die Burka (Verschleierungsformen des Gesichts bei Frauen, Anm.) sind in Tunesien im öffentlichen Raum und in Schulen verboten. Man kann am öffentlichen Leben nicht teilnehmen, wenn man sein Gesicht nicht zeigt. Man kann nie wissen, ob sich nicht ein Terrorist darunter versteckt. Das kam ja schon vor. Für Burkini-Verbote hingegen habe ich kein Verständnis. Das fällt für mich unter Freieheit der Bekleidung. Wer seinen Körper nicht zeigen will, der muss das meiner Meinung nach nicht tun – auch wenn mir persönlich der Bikini lieber ist. Dass ein Gerichtshof in Frankreich die Burkiniverbote wieder gekippt hat, finde ich richtig."
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