Zwischen Revolution und Frauenalltag

Soukaina Jomni ist stolz. Stolz auf die Situation der tunesischen Frau. Die Juristin und Mutter aus Tunis weiß aber auch, dass noch viel zu tun ist auf dem Weg zur Gleichberechtigung, sagt sie zum KURIER.
Das Land hat in der Arabischen Welt eine Vorreiterrolle in Sachen Frauenrecht und Gleichheit der Geschlechter. Das spiegelt sich in der guten Ausbildung der Frauen und in der vergleichsweise niedrigen Geburtenrate wider (2,17 Kinder pro Frau). Präsident Habib Bourguiba hat im Zuge der Unabhängigkeit Tunesiens 1956 die Gleichheit von Mann und Frau in die Verfassung schreiben lassen. Frauen bekamen das Wahlrecht und das Recht auf Bildung, die Vielehe wurde abgeschafft, die Scheidung legalisiert. Während der Jasmin Revolution 2011 stand riesengroß auf einer Wand im Zentrum von Tunis geschrieben: "Die tunesische Frau ist frei – und wird es auch bleiben." Man sah den Aufstieg der Islamisten kommen – und wappnete sich dagegen.
Die auf die Revolution folgende Suche nach einer neuen Verfassung löste erneut eine soziale Debatte über die Frauenrechte aus, die tatsächlich Früchte trug: "Der wichtigste Aspekt der neuen Verfassung ist, dass sie sich nicht auf die Scharia bezieht", sagte Ahlem Belhadj, eine der führenden tunesischen Frauenrechtlerinnen, kürzlich in einem Interview. Es gebe viele Errungenschaften für Frauen. Der Gleichheitsgrundsatz bleibe festgeschrieben, die Politik engagiere sich, Frauen einzubeziehen und häusliche Gewalt zu unterbinden.
Reisen ohne Erlaubnis
Die jüngste Errungenschaft der Frauenrechtler in Tunesien, denen auch viele engagierte Männer angehören: Frauen brauchen seit Ende 2015 keine Erlaubnis mehr von ihren Ehemännern (oder Ex-Männern), wenn sie mit ihrem Kind ins Ausland reisen. Feministinnen feierten das als Etappensieg auf dem Weg zur freien Frau. Jedoch sind auch noch etliche alte Gesetze vorhanden, die Frauen diskriminieren, etwa im Erbrecht. Außerdem gebe es noch laute Stimmen von konservativen Islamisten, Polygamie wieder einzuführen. "Wir haben noch so viel zu tun", sagt Belhadj.
Tunesier betonen immer wieder, dass der Aufstand gegen den korrupten Präsidenten Ben Ali 2011 vor allem von den Frauen getragen wurde. Das unterstreicht auch die Feministin Belhadj. In der Zivilgesellschaft sind viele Frauen tätig. Vor allem in Tunis und den Küstengebieten leben die Frauen einen "europäischen" Lebensstil. Viele tragen ihr Haar offen, ohne Kopftuch.
Tunesierinnen sind gut gebildet. 64 Prozent aller Universitäts-Absolventen sind Frauen. Doch danach wird es hart: 80 Prozent der neu geschaffenen Jobs gehen an Männer. Für die im regionalen Vergleich gut ausgebildeten Frauen ist der Einstieg ins Berufsleben schwer. Nur zwei von zehn Frauen haben einen Job.
Frauenquote in öffentlichen Ämtern
Manche machen die mangelnde Kinderbetreuung dafür verantwortlich. Die österreichische Familienministerin Sophie Karmasin traf kürzlich in Tunis ihre tunesische Amtskollegin Samira Merai, die sich, so Karmasin, beeindruckt vom österreichischen Kinderbetreuungsmodell zeigte. Gegenüber dem KURIER drückte Karmasin ihre Freude über Merais Pläne aus, eine 50-Prozent-Quote für Frauen in öffentlichen Ämtern einzuführen. Karmasin: "Ich weiß nicht, wie realistisch das ist, aber es ist sehr engagiert." Weltweit wäre Tunesien das erste Land mit einer solchen Quote. Den Gesetzesentwurf muss die tunesische Frauenministerin aber noch einbringen.
Häusliche Gewalt
Von außen sieht die Situation der tunesischen Frau hoffnungsvoll aus. Doch wenn man hinter die verschlossenen Türen blickt, so zeigt sich dort – ähnlich wie in anderen Ländern der Region – ein düsteres Bild. Mehr als 40 Prozent der Frauen haben Erfahrung mit häuslicher Gewalt. Die Regierung hat 2014 ein Gesetz gegen sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt versprochen. Angeblich soll es in den nächsten Wochen kommen.
Opfer werden häufig von der Polizei diskriminiert – nach dem Motto "Du bist selbst schuld". Es gibt für sie auch kaum rechtliche oder psychologische Beratung. Vergewaltigung in der Ehe ist immer noch keine Straftat in Tunesien. Vergewaltiger können sich der strafrechtlichen Verfolgung entziehen, wenn sie ihr Opfer heiraten.
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