Referendum in der Türkei: Reportage aus Carsamba

Symbolfoto.
Am Tag des historischen Referendums steht die Türkei vor der vielleicht folgenschwersten Entscheidung ihrer Geschichte. Noch nie war das Land so gespalten. Der Ausgang ist noch am Wahltag ungewiss.

Auf den ersten Blick ist an diesem Sonntagmorgen in Carsamba, einem islamisch-konservativen Bezirk in Istanbul, alles wie immer. Familien schlendern durch das Viertel. Straßenhändler, die Gebäck und Tee anbieten, hoffen auf ein gutes Geschäft. Kinder tollen über die Spielplätze, während ihre Eltern einen Tee in der Sonne genießen. Doch der Schein trügt. Denn heute ist der Tag, an dem die Türkei in einem historischen Referendum über ihr Schicksal abstimmt - und sich nach Wochen eines erbitterten und ungleichen Wahlkampfes für oder gegen das von Staatschef Recep Tayyip Erdogan ersehnte Präsidialsystem entscheiden soll.

Auf dem Schulhof der Yavuz-Selim-Grundschule, wo die Wahl bereits in vollem Gang ist, sitzt eine kleine Gruppe um einen Tisch - sie alle haben im heutigen Referendum mit „Evet“, also „Ja“, gestimmt. Auch Ülker Islamoglu, der als Wahlbeobachter für Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP arbeitet, hat seine Stimme bereits abgegeben. „Das “Ja„ wird auf alle Fälle gewinnen“, sagt der 44-Jährige, der sonst bei einer privaten Sicherheitsfirma angestellt ist. „Heute erleben wir die Auferstehung einer neuen Türkei und der Osmanen“, fügt er stolz hinzu.

Vorwürfe lächerlich

Die Vorwürfe, das Präsidialsystem würde Erdogan zuviel Macht verleihen und die Türkei in eine Diktatur verwandeln, hält Islamoglu für lächerlich. „Das ist nur die Intoleranz einiger weniger“, sagt er. „Im Moment ist es so, dass der Präsident und der Ministerpräsident oft verschiedener Meinung sind. Aber ein Boot kann nun mal nicht von zwei Kapitänen gesteuert werden.“

Im Schulgebäude hängen neben einer bunten Wandzeitung zum „Thema der Woche: Menschenrechte“ A4-Zettel aus, die Wähler zu den Urnen ihrer Wahlbezirke leiten. Vor einigen Klassenzimmern haben sich bereits kleinere Schlangen gebildet. Aysel Borak, 28, arbeitet als Wahlbeobachterin für die pro-kurdische HDP. Die Grundschule in Carsamba, wo sie auch wohne, habe sie sich absichtlich zuteilen lassen. Das Referendum sei bereits ihre zehnte Wahl in diesem Wahllokal. „Dieses Viertel ist eine AKP-Hochburg“, sagt sie. „Klar werden wir hier auch beleidigt, oft werden wir als “Terroristen„ beschimpft. Hier sind auch die AKP-Mitarbeiter weit in der Überzahl gegenüber den Leuten der Oppositionsparteien. Deswegen ist es besonders wichtig, hier auf einen ehrlichen Ablauf zu achten.“

Unregelmäßigkeiten

Zwar sei die Wahl an der Schule am Vormittag ruhig verlaufen, doch zu Unregelmäßigkeiten komme es dennoch. Ab und zu versuchten die Wahlbeobachter der AKP, die Leute noch an den Wahlurnen zu einem „Ja“ zu bewegen. In einigen Fällen seien Wähler zu zweit in die Wahlkabine gegangen, zum Beispiel mit Ehepartnern oder älteren Familienmitgliedern. „Das ist gegen die Regeln, aber meistens setzen sich die AKP-ler gegen unsere Einwände durch“, sagt Borak.

Just in diesem Moment entsteht auf dem Flur eine Diskussion um eine Mutter, die im Namen ihrer geistig behinderten Tochter gewählt hat. Das sei nicht erlaubt, argumentieren die zur Wahlbeobachtung anwesenden Anwälte, doch zwei AKP-Wahlbeobachter wiegeln schnell ab. „Sie hat gewählt, ist doch alles in Ordnung, warum versucht ihr hier, Panik zu verbreiten?“ sagt eine AKP-Mitarbeiterin verärgert.

Kopf-an-Kopf-Rennen

Umfragen sagten ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei dem Referendum voraus. Cem, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, hat seine Stimme für die von Erdogan gewünschte Verfassungsänderung abgegeben. „Ich erwarte heute ein “Ja„“, sagt der 40 Jahre alte Buchhalter, der sich selbst als „treuer Anhänger“ der ultranationalistischen MHP bezeichnet. Ein „Ja“ sei gut für die Türkei, fügt er hinzu. „Bei einem “Ja„ werden wir noch mehr Demokratie, noch mehr Freiheit bekommen“, argumentiert er selbstbewusst. Das Präsidialsystem würde der Türkei eine stärkere Führung schenken. „All diese Streitereien in Parlament und Regierung hätten damit ein Ende.“ Mit Erdogan und der AKP-Regierung sei er „voll und ganz“ zufrieden.

Dieser Meinung ist ein 49 Jahre alter Taxifahrer, der anonym bleiben will, nicht - auch er ist wie Cem Anhänger der MHP, die in der Frage des Präsidialsystems gespalten ist. Die AKP streue den Leuten seit Jahren Sand in die Augen. „Sie brüsten sich damit, Straßen, Brücken und Krankenhäuser zu bauen“, sagt er. „Aber das ist ja sowieso ihre Aufgabe als Regierung, das ist doch keine besondere Leistung! Und wer baut denn diese Brücken und Straßen? Die Freunde und Verbündeten der AKP.“

Trotzdem sei er noch immer unentschieden, ob er seinen Stempel für „Ja“ oder „Nein“ machen soll. Er zuckt mit den Schultern. „Wenn ich jetzt für das Präsidialsystem stimme, gibt es kein Zurück mehr“, sagt er. „Und ein “Ja„ würde nur dazu führen, dass sie gar nicht mehr für die Türkei arbeiten, sondern sich sagen: “Jetzt haben wir ja alles, was wir wollten, jetzt müssen wir uns keine Mühe mehr geben.„“ Wieder überlegt er kurz. „Aber wenn ich dagegen stimme, wird die AKP ihren Willen auf anderen Wegen durchzusetzen versuchen. Die Lage könnte sich weiter verschlechtern. Was soll man da machen? Wenn das die einzigen Optionen sind, was soll man da wählen?“

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