"Ein Befehl – und hier ist kein IS mehr"

Frontstellung der Peschmerga bei Shingal – von der versprochenen Ausrüstung westlicher Staaten ist hier nichts angekommen, sagt der höchste Kommandant der Region.
Qassim Shasho steht an vorderster Front gegen den IS, der – regional in Bedrängnis – in Europa bombt.

Die Front verläuft südlich des Shingal-Gebirges – ein kilometerlanger Erdwall, der kurdische Kräfte und den IS trennt. Granatbeschuss ist Alltag. Dabei sind die Angriffe des IS in Europa wohl mehr Kraftmeierei als Ausdruck tatsächlicher Stärke. Am Freitag soll die Nummer Zwei im Kommando des IS bei einem Luftangriff in Syrien getötet worden sein.

Dass der IS militärisch schwächelt, lässt auch Qassim Shasho durchblicken. Er ist eine Legende in Shingal. Ein Jeside, der, als der Massenmord an seiner Volksgruppe durch denn IS (Juli/August 2014) begann, nach 26 Jahren in Deutschland zurückkehrte, um die Jesiden gegen den IS zu vereinen. Heute ist er General und oberster Kommandant der Peshmerga (Truppen der Autonomen Region Kurdistan) in der Region Shingal. Damit ist er auch einer jener Kommandanten, die die soeben eröffnete Schlacht um Mossul maßgeblich mitbestimmen werden.

"Ein Befehl – und hier ist kein IS mehr"
Der KURIER traf ihn in einem Unterstand an der Front. Shasho besuchte den Ort knapp nach einem Bombenanschlag des IS auf ein Truppenfahrzeug mit zwei Toten.
"Ein Befehl – und hier ist kein IS mehr"
Quassim Shasho, Sinjar, Irak,
KURIER: In Europa ist sehr viel von Unterstützung für die Peshmerga die Rede. Hier an der Front sieht man nichts davon. Wo ist die Ausrüstung, die angeblich geliefert wurde?

Qassim Shasho: Es mangelt an allem. Wir haben hier 70 Kilometer Grenze mit dem IS – und zwei Nachtsichtgeräte. Zwei Geschütze haben wir selbst von eigenem Geld gekauft. Wir kämpfen hier mit dem, was wir haben, um unser Land zu verteidigen.

Haben Sie da einen eigenen Staat im Sinn?

Solange es kein eigenständiges Kurdistan gibt, sind Massaker wie damals in Zukunft nicht ausgeschlossen.

Nach dem, was passiert ist: Können Sie sich vorstellen, dass hier Jesiden und Araber jemals wieder nebeneinander leben?

In unserem eigenen Land wollen wir das nicht zulassen. Wir haben hier nebeneinander gelebt, wir haben hier miteinander gelebt, Feste gefeiert. Das waren unsere Nachbarn. Sie haben uns verraten. Ich weiß, das darf man nicht sagen, aber das sind schlechte Menschen.

Es heißt, der IS sei geschwächt. Hier starben eben zwei Menschen – hinter einer schwer gesicherten Front. Was stimmt also?

Es sind nicht viele, aber bevor sie weglaufen, starten sie immer einen großen Angriff. Und wir haben auch nicht die Möglichkeit, sie anzugreifen. Wenn wir freie Hand hätten, würden wir längst unsere Gebiete einnehmen. Aber wir bekommen keinen Befehl.

Woran liegt das?

Wir können nicht ohne Abstimmung mit der internationalen Koalition und ohne die Zustimmung der Regierung (meint die Regierung der Autonomen Region Kurdistan) vorrücken. Denn dann würden die Flieger auch auf uns schießen. Wenn Amerika und Europa es wollten, wäre in 48 Stunden kein IS mehr hier.

Wie würden Sie die Kooperation mit der Koalition beschreiben?

Sie unterstützen uns schon – aber nicht so, wie wir das wollen. Wir schicken ihnen Koordinaten, aber sehr oft greifen sie nicht an. Wenn sie ihre Informanten beim IS an diesem Punkt haben, dann schießen sie nicht. Die USA haben zu viele Informanten unter denen.

Zurück zur internationalen Unterstützung. Da rühmen sich sehr viele Staaten, sehr viel zu tun. Tun sie das? Wenn ja: Wo?

Bei uns ist nichts angekommen. In Erbil haben wir ein Training gemacht. Da waren 700 Soldaten von uns. Die haben auch das G-36 (deutsches Gewehr, Anm.) bekommen. Aber es mangelt an Ausrüstung. Ich habe das Präsident (der Region) Barzani auch persönlich gesagt.

Stoßen Sie bei Barzani auf ein offenes Ohr?

Er unterstützt uns, aber es ist zu wenig.

Wenn man das Konglomerat an Milizen in der Region betrachtet, so gab und gibt es religiöse und politische Rivalitäten. Wie klappt denn die Koordination zwischen PKK, muslimischen Peschmerga und jesidischen Gruppen?

Die Zusammenarbeit ist nicht wirklich gut. Jeder kämpft für seine Partei, um ehrlich zu sein. Zum Beispiel: Wir haben diese Stadt eingenommen, und dann hat die PKK hier überall ihre Fahnen gehisst. Und dann heißt es, dass die PKK hier das Sagen hat. Aber wenn man sich die 70 Kilometer Grenze ansieht, die wir hier vor uns haben, dann sind da nur Peschmerga.

Wie lässt sich das lösen, damit das nicht eskaliert?

Wir hoffen, dass es nicht zu einem Bruderkrieg kommt. Klar ist: Das hier ist unser Land, und das werden wir an niemanden abtreten. Es war das 74. Massaker an uns Jesiden. Und wenn noch einmal 74 Massaker kommen werden, wir werden dieses Land nicht aufgeben.

Wie sehen Sie die Rolle der Türkei hier? Es gibt eine Ausbildungsmission für Peschmerga. Wie stehen sie dazu?

Wir haben kein Vertrauen in die Türkei. Türkei, Iran und Araber, das sind unsere Feinde. Die Türken sagen zwar, dass sie den IS bekämpfen, aber das stimmt nicht.

Glauben Sie, dass der Irak in seinen Grenzen bestehen bleibt, oder ist er Geschichte?

Ich bin kein Professor. Aber es wird wohl drei Teile geben: Sunniten, Schiiten und Kurden. Sie müssen wissen, die irakische Regierung ist nicht viel besser als der IS.

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