Erdogan: "Ich werde rennen und schwitzen"

Begeisterte Massen jubeln dem wahlkämpfenden Noch-Ministerpräsident Erdogan zu. Aber im Grenzgebiet zu Syrien hat er selbst bei AKP-Stammwählern an Terrain verloren
Der türkische Premier will nach der Wahl am Sonntag den Staat umbauen.

Lauter gute Nachrichten verbreitet die türkische Regierung in diesen Tagen. Das Pro-Kopf-Einkommen der Türken habe sich unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf rund 10.800 US-Dollar im Jahr verdreifacht, erklärte sie Anfang der Woche. Eine neue Türkei entstehe, verkündete die regierungstreue Presse ergänzend. Und: Erdogans Sieg bei der Präsidentenwahl am kommenden Sonntag sei so gut wie sicher.

Erdogan: "Ich werde rennen und schwitzen"
Turkey's Prime Minister and presidential candidate Tayyip Erdogan greets his supporters during an election rally in Istanbul August 3, 2014. Cheers erupted from the packed stands when Erdogan scored his third goal in a celebrity soccer match to mark the opening of an Istanbul stadium. His orange jersey bore the number 12, a reminder of Erdogan's ambition to become the nation's 12th president in Turkey's first popular vote for its head of state, on Aug. 10. After dominating Turkish politics for more than a decade, few doubt Erdogan will beat his main rival Ekmeleddin Ihsanoglu, a diplomat with little profile in domestic politics, or Selahattin Demirtas, a young Kurdish hopeful. Picture taken August 3, 2014. REUTERS/Murad Sezer (TURKEY - Tags: POLITICS ELECTIONS PROFILE)
Die Umfragen sehen den 60-Jährigen bei etwa 55 Prozent – weit vor seinem Herausforderer Ekmeleddin Ihsanoglu mit etwa 40 Prozent und dem Kurdenkandidaten Selahattin Demirtas bei sechs bis acht Prozent. Doch das eindeutige Bild könnte täuschen. Zumindest einige Umfrage-Institute in der Türkei sind sehr regierungsfreundlich und übertreiben gelegentlich bei der Voraussage von Wahlergebnissen Erdogans und dessen Regierungspartei AKP.

Vor den Kommunalwahlen im März hätten manche Institute dem Premier bis zu fünf Prozentpunkte mehr zugesprochen, als er am Ende bekommen habe, schrieb der Journalist und Erdogan-Kritiker Emre Uslu auf Twitter. Das könnte bedeuten, dass es am Sonntag für Erdogan durchaus noch knapp werden könnte, denn für einen Sieg in der ersten Runde braucht er mehr als 50 Prozent. Schafft er diese Marke nicht, muss er am 24. August in die Stichwahl.

Ärger an Syriens Grenze

In einigen Teilen des Landes macht sich selbst bei der AKP-Stammwählerschaft Unmut und Protest breit. So sind viele Türken, besonders im Grenzgebiet zu Syrien, verärgert über die vielen syrischen Flüchtlinge im Land. Fast 1,5 Millionen Syrer hat die Türkei inzwischen aufgenommen. Wohlhabende Flüchtlinge konkurrieren mit Türken auf dem Wohnungsmarkt und treiben die Mieten nach oben, während arme Syrer als Tagelöhner für Hungerlöhne schuften und das Lohnniveau drücken.

"Wähle AKP nicht mehr"

Mancherorts gab es in den vergangenen Wochen gewalttätige Protestkundgebungen gegen die Syrer. In Gaziantep, rund 60 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, kündigten einige Türken an, aus Protest gegen Erdogan zu stimmen. "Die AKP ist für mich erledigt", sagte der Süßwarenhändler Kadir Sengir. "Ich habe bisher AKP gewählt, aber damit ist Schluss."

Die Kunden in seinem Laden pflichteten ihm bei. Einer von ihnen, der 26-jährige Verkäufer Sinan Dagli, ist vor einem Monat mit seiner Frau und zwei Kindern aus seiner Mietwohnung geflogen. Sie zahlten 300 Lira im Monat, doch syrische Interessenten boten dem Vermieter 750 Lira. Jetzt wohnt er mit seiner Familie bei seinen Eltern und will nicht mehr für Erdogan stimmen.

Einen Erdogan-Sieg verhindern werden die Protestwähler aber nicht. Spätestens in der zweiten Runde Ende August dürfte der Ministerpräsident sein großes Ziel erreichen und an die Staatsspitze rücken. Ausruhen will sich Erdogan im neuen Amt keinesfalls: "Rennen und schwitzen" werde er als Präsident, verspricht er. Kein Wunder, denn er will den Staat umbauen und gegen seine angeblichen Feinde vorgehen. Am Dienstag nahmen die Sicherheitsbehörden erneut mehr als 30 mutmaßliche Regierungsgegner bei der Polizei fest.

Bis jetzt hat ein Staatspräsident vor allem repräsentative Aufgaben. Erdogan will als erster direkt gewählter Staatschef aber das Land lenken. Die derzeitige Verfassung gibt dem Präsidenten nur wenige Vollmachten, aber die will der Staatschef in spe voll ausnutzen. So darf er die Kabinettssitzungen in Ankara leiten. Die Regierung dürfte im neuen System Erdogan erheblich an Bedeutung verlieren; Erdogans Nachfolger als Ministerpräsident wird wohl ein treuer Gefolgsmann des Chefs sein, der ohne Widerworte die Anordnungen aus dem Präsidentenpalais umsetzt.

Dieses Quasi-Präsidialsystem lässt Gegner Erdogans befürchten, dass die Türkei zu einem Staat umgebaut wird, in dem alles auf einen einzigen Mann zugeschnitten ist und in dem die Opposition geknebelt wird.

Machtkampf in AKP

Auch Erdogans Partei AKP bringt das neue System Unwägbarkeiten. Als Präsident muss Erdogan aus der Partei austreten und darf nicht mehr an Wahlkämpfen teilnehmen – womit die AKP ein Jahr vor den Parlamentswahlen ihr mit Abstand wichtigstes Zugpferd verliert. Schon jetzt sind Ansätze von Machtkämpfen in der AKP zu erkennen, es wird mehr oder weniger offen um Posten gerangelt. Manch einer in der AKP erinnert sich mit Schaudern an den Untergang der konservativen Partei ANAP, nachdem ihr charismatischer Chef und Erdogan-Vorbild Turgut Özul 1989 Präsident wurde. Mit ANAP ging es bergab – vor fünf Jahren löste sie sich auf.

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