Ostukraine: Gefechte in der Nacht, keine Zukunft am Tag

Alltagsleben zwischen den Fronten in der Ostukraine
Zwischen Soldaten der Ukraine und pro- russischen Milizen leben Zivilisten – was man so Leben nennt.

Aus dem Zentrum von Stanyzja Luganska führt die Straße in die südlichen Vororte. Am Ortsrand ist Schluss. Häuser mit abgerissenen Dächern und durchlöcherten Blechtoren, befestigte Unterstände, Schützengräben, Betonblöcke auf der Fahrbahn. Und: reges Treiben. Soldaten, Zivilisten mit Taschen, Wartende, Ankommende. Ein Mann schiebt einen Kühlschrank mit einer Rodel auf die Straße, die zur nahen Brücke führt. Auf einer Bank sitzt ein Mann und raucht – seit sieben Stunden. Er wartet auf seine Tochter, die auf der anderen Seite der Brücke feststeckt.

"Nicht so wirklich Krieg"

Das hier ist die Front zwischen den ukrainischen Kräften und pro-russischen Milizen. Die Brücke ist einer der wenigen offiziellen Übergänge über die Kontaktlinie. Tagsüber ist am Flussufer so etwas wie ein provisorischer Grenzübergang installiert – nachts wird geschossen. Aber immerhin – und darüber ist der am Übergang wartende Herr froh – derzeit mit kleinen Kalibern. Nichts so, wie damals. Wenn er von "damals" spricht, meint er den "Krieg" 2014/2015 als von allen Seiten kommend Raketen einschlugen. Die täglichen Gefechte bei Nacht sind Alltag geworden. Ob das nicht Krieg sei? Er lacht. "Naja, nicht so wirklich."

Stanyzja Luganska und die angrenzenden Orte hatten einmal 15.000 Einwohner. Heute sind es 5000. Von den rund 5000 Häusern im Ort wurden 3500 beschädigt oder zerstört, so der Chef der Regionalverwaltung Yuriy Zolkin. Die Fenster seines Büros sind durchschossen, die Einschüsse mit Klebeband fixiert. Zolkin, ein Ex-Militär, beschreibt die Lage seines Zuständigkeitsbereichs trocken in Zahlen: Vor dem Krieg gingen hier 420 Kinder in eine der Schulen, heute sind es 140. Zwischenzeitlich waren es nur 40. Auch er spricht vom Krieg in der Vergangenheit. Er erwähnt aber, dass die "Marionetten", wie er die pro-russischen Milizen auf der anderen Seite der Front nennt, zuletzt wieder vermehrt mit großen Kalibern schießen.

Früher gab’s Gemüse

Stanyzja Luganska zählte zum Speckgürtel der nahen Stadt Lugansk, die heute auf der anderen Seite der Front liegt. Hier befanden sich die Datschen der Stadtbewohner. Die Bewohner des Ortes wiederum verdienten sich ihren Lebensunterhalt zu einem guten Teil mit dem Anbau von Obst und Gemüse, das sie in Lugansk verkauften. Hinzu kamen Holzindustrie und einige andere Großunternehmen, die heute aber nicht mehr arbeiten. Große Waldflächen brannten infolge von Beschuss nieder, in den noch bestehenden Waldgebieten sind Blindgänger eine riesige Gefahr; einige Fabriken wurden niedergebombt. Und der Verkauf von Gemüse funktioniert nur mehr in kleinem Umfang, weil die Brücke wegen Schäden nur zu Fuß zu überqueren ist und die Wartezeiten lang sind. Trotzdem passieren täglich um die 2000 Menschen.

Der Krieg hat das soziale wie wirtschaftliche Gefüge der Region zerschlagen. Es fehlt an Lehrern, Ärzten, Sozialarbeitern. Das zivilgesellschaftliche Leben ist zusammengebrochen.

Der Herr an der Brücke sagt, seine Tochter habe eine Wohnung in Lugansk, wo sie mit ihrem Mann lebe, er sei lieber in der Datscha auf ukrainischer Seite geblieben. Ab und zu, je nach Wetter, würden sie sich treffen. Geld verdient der ehemalige Elektriker als Tagelöhner.

Zwar herrscht Mangel an Schlüsselarbeitskräften – einfache Jobs gibt es aber nicht. Sehr viele Junge haben die Region verlassen, geblieben sind die Alten. Und das gilt nicht nur für Stanyzja Luganska, sondern für die gesamte Pufferzone entlang der Hunderte Kilometer langen Frontlinie.

Junge weg, Kinder leiden

Zugleich machen sich unter jenen, die geblieben sind, die Folgen von allnächtlichem Beschuss bemerkbar. 93 Prozent der Kinder, die in dieser Zone leben, leiden laut UNO an psychischen Folgeerscheinungen des Krieges. Das sind in Summe laut UNICEF 19.000 Kinder, die unter der ständigen Bedrohung leben, beschossen zu werden. In den Schulen gehören Bombenübungen zum Standard. Psychosoziale Hilfe leistet die Caritas mit zahlreichen Projekten vor Ort.

Da sind vor allem aber auch pflegebedürftige Alte die zurückbleiben, deren Kinder entweder tot sind oder sich aus der Region verabschiedet haben. Staatliche Strukturen kommen dem Bedarf nicht nach. Hinzu kommt der verfallende Wert der nationalen ukrainischen Währung bei zugleich aber stetig steigenden Preisen. Eine kleine Pension beträgt heute gerade einmal knapp 40 Euro. Nur mit der Hilfe von NGOs sind die Herausforderungen einigermaßen zu bewältigen.

Das Leid der Alten

Wenn er vom Krieg spricht – damals – schießen Iwan die Tränen in die nahezu blinden Augen. Wenn er von seiner bettlägrigen Frau spricht, die an einer Lähmung leidet und kaum sprechen kann, auch. "Den Krieg, den haben wir überlebt", sagt er. Das Haus, das er in den 70er-Jahren gebaut hat, wurde getroffen, das Dach ist leck. Der Staat würde ihm ja Material zur Reparatur zur Verfügung stellen, aber mit der Beinprothese und in seinem Alter schafft er das nicht mehr. Arbeiter zu bezahlen, das geht sich nicht aus. Die Sommerküche hat nur ein Paar Splitter abbekommen, da wohnen sie jetzt – ein Zimmer, ein Holzofen, zwei Betten, zwei neue Fenster, eine Tür, im Winkel eine Ikone, aus. Iwan erzählt, wie sich die Kinder verabschiedet haben, um nie mehr wieder zu kommen, wie sie damals schon sagten. Und sie kamen nie mehr wieder.

Von der Hand in den Mund

Iwan und Frau leben von der Hand in den Mund und überleben mithilfe von Hauskrankenpflegern der Caritas als einzigen verblieben Sozialkontakt. Angehörige, die in Lugansk leben schauen auch nicht mehr vorbei – zu kompliziert, über die Brücke zu kommen.

Vom Krieg spricht der an der Brücke auf seine Tochter wartende Herr in der Vergangenheit. "Frieden" wünscht er sich für die Zukunft, und "festgefahren", so beschreibt er die Gegenwart. Und wie lange wird dieser Zustand anhalten? "Lange!"

Caritas Spendenkonto: IBAN: AT47 2011 1890 8900 0000 Kennwort: Kinder in Not

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