Die Generation Z protestiert mit der Piratenflagge

Die „One-Piece-Flagge“ bei Protesten in Indonesien – mittlerweile wird die Flagge in vielen anderen Ländern benutzt.
„Ich will in einer Welt leben, in der alle meine Freunde genug zu essen haben“, ruft Monkey D. Luffy, als er den Piratenkaiser Kaido besiegt. Kaido, der zuvor ein ganzes Land hungern ließ und die Bevölkerung massiv unterdrückte.
Es ist eine der vielen ikonischen Szenen der Manga-Serie „One Piece“, die der japanische Mangaka, sprich Manga-Zeichner Eiichirō Oda seit 1997 zeichnet und schreibt. 1161 Kapitel umfasst die Piratensaga mittlerweile, in der der naive, aber gutherzige Monkey D. Luffy sich anschickt, zum „König der Piraten“ zu werden. In einer Welt voll von bösartigen Freibeutern, Kopfgeldjägern, einer korrupten Weltregierung und grassierender Ungerechtigkeit verlässt sich Luffy auf seine Freunde, seine Crew. Auf die Frage, warum er König der Piraten werden will, antwortet er: „Weil ich dann die größtmögliche Freiheit habe.“
Dass One Piece derzeit solche Aufmerksamkeit unter jungen Menschen genießt, ist kein Wunder. Als „Shōnen“, einer Form der Mangakunst für Jugendliche, folgt die Geschichte einem klaren Konzept: ein Held, der meist aus widrigen Umständen kommt und hart arbeitet, damit er seinen Lebenstraum verwirklichen kann, ein ehrliches Ziel, Freunde, die ihn tragen.
Die klare Botschaft: nur gemeinsam lassen sich Prüfungen bestehen. Anstrengung zählt mehr als Talent: Erst kommt die Niederlage, dann das Training, dann der nächste Versuch. Mächtige, oft scheinbar übermächtige, Antagonisten schärfen das Profil des Helden. Mentorfiguren geben die Richtung vor – und stellen Wertefragen. Viele Antagonisten sind keine Karikaturen des Bösen, sondern tragische Gegenentwürfe: Wer verstehen will, warum sie kämpfen, muss die Welt und ihre Regeln durchdenken.
Erzählt wird in Etappen, den sogenannten Arcs. Jede Etappe hat ein klares Ziel: eine Prüfung, ein Turnier, eine Mission, eine Insel. Das macht Fortschritt sichtbar und Konflikte lesbar. Zeitsprünge machen neugierig auf neu erlernte Fähigkeiten, Figuren kehren meist stärker und ernster zurück.
Die Bildsprache in Mangas setzt das jeweilige Tempo auf Papier um. Von kleinen „Bildkästen“ bis hin zu Zeichnungen, die eine ganze Seite abdecken entsteht allein durch die Zeichnungen eine Dynamik, die den Leser fesselt. Nahaufnahmen von Augen oder Händen transportieren Emotionen ohne erklärende Textwüsten.
Ein weiterer Vorteil der Shōnen-Mangas: In regelmäßigen Abständen erscheinen neue Kapitel einer zusammenhängenden Geschichte. Alle ein- bis zwei Wochen erscheint etwa ein neues One-Piece-Kapitel – seit 1997. Dies schafft eine Bindung, die es in dieser Form selten gibt.
International prägt Shōnen längst Design und Dramaturgie. Westliche Comics, Filmemacher und PC-Spiele übernehmen die Mischung aus klarer Action, Teamdynamik und regelgebundenen Fähigkeiten. Dazu kommt, dass die Mangas meist nicht nur als „Animes“, also Zeichentrick-Serien, sondern immer mehr als Realverfilmungen produziert werden. Die entsprechende One-Piece-Serie war im zweiten Halbjahr 2023 die meistgesehene Netflix-Serie.
Gemeinsame Werte
Es ist kein Zufall, dass Luffys Piratenflagge – ein Totenkopf mit Strohhut – derzeit bei vielen Protesten in Asien, Afrika und Südamerika auftaucht. „Wir sehen die Flagge als Symbol der Befreiung von Unterdrückung – und dass wir immer für die Zukunft kämpfen sollten, die wir verdienen“, sagt ein 23-jähriger Demonstrant auf den Philippinen.
Seit Anfang September finden dort massive Proteste mit mehr als 100.000 Demonstranten statt. Auslöser war ein Skandal rund um Hochwasserschutzprojekte, für die zwischen 2023 und 2025 Steuergelder in einer Höhe bis zu 1,77 Milliarden Euro verloren gingen.
Wie kommt es aber, dass ein Manga zum Symbol für Protest wird? One Piece wird 2026 der meistverkaufte Comic aller Zeiten sein – mehr als 523 Millionen Bände gingen bisher weltweit über die Theke, bald wird das Franchise Harry Potter überholt haben. Superman – seit 1938 produziert – liegt bei etwa 600 Millionen verkauften Exemplaren. Viele Jugendliche sind damit aufgewachsen, teils schon ihre Eltern.
Die Auslöser
Seinen Anfang als Zeichen des Protests nahm die One-Piece-Flagge bei den Protesten in Indonesien, wo seit Februar gegen die Regierung demonstriert wird. Etwa gegen eine Wohnungszulage für Parlamentsabgeordnete, die die Mindestsicherung übersteigt. Wenig später stürmten Demonstranten das nepalesische Parlament, auch dort unter der „Strohhut-Flagge“. Einer der Auslöser für diese – mitunter brutalen – Proteste waren opulente Instagram-Auftritte von Kindern von Politikern.
Ein Motiv, das auch in One Piece immer wieder gezeigt wird: Die Adeligen in der Saga, auch „Himmelsdrachen“ genannt, scheren sich nicht um die Bürger, sehen sie als Ungeziefer und frönen dem Luxusleben. Als die nepalesische Regierung nach den ersten Protesten die Sozialen Medien sperrte, eskalierten die Demonstrationen nur noch mehr. Die Protestler setzten Wohnsitze und Büros von Ministern in Brand.
Die Polizei setzte erst Wasserwerfer, dann scharfe Munition ein: 72 Menschen starben. Der nepalesische Ministerpräsident erklärte seinen Rücktritt, im März sollen Neuwahlen stattfinden.
Korruption
Weitere Beweggründe für die Proteste, die mittlerweile auch in Osttimor, Madagaskar und Peru stattfinden, sind die sinkenden Möglichkeiten für die junge Generation, die täglich auf Sozialen Medien sieht, wie luxuriös andere Altersgenossen leben. Vor allem in Nepal, wo die Jugendarbeitslosigkeit über 20 Prozent liegt, gießen solche Selbstdarstellungen Öl ins Feuer der Unzufriedenheit. In Peru wiederum ist die Jugend seit Jahren unzufrieden über Korruptionsskandale sowie über die Absetzung des Präsidenten Pedro Castillo im Jahr 2022. Immer wieder flammten Proteste auf.
Dieses Mal ist der Auslöser eine geplante Pensionsreform, die Personen ab 18 Jahren dazu verpflichten soll, in das private Pensionssystem einzuzahlen. Die junge Generation wittert darin eine massive Benachteiligung: „Ich fühle mich von dieser Regierung und diesem Kongress, der allen politischen Parteien dient, die eine im Staat verwurzelte Mafia sind, völlig getäuscht“, sagte eine der jungen Demonstrantinnen.

Ein anderer Demonstrant fasst zusammen, warum sich One Piece aus seiner Sicht dazu eignet, nicht nur ein Symbol, sondern ein Unterbau für die länderübergreifenden Proteste ist: „Luffy fährt von Insel zu Insel, befreit die Menschen dort von korrupten Tyrannen. Das spiegelt wieder, was hier in der echten Welt passiert.“
Viele Motive
Staatliche Korruption spielt bei One Piece in einigen Abenteuern der Strohhutpiraten-Bande eine große Rolle: Etwa, wenn ein abtrünniger Spross der Himmelsdrachen sich ein ganzes Land Untertan macht und Staat, Gerichtsbarkeit wie Medien massiv manipuliert und zu seinem Vorteil ausbeutet.
Die Wut der Demonstranten entlädt sich mitunter in brutaler Gewalt und Zerstörung – Hunderte wurden festgenommen. Und auch hier bietet One Piece einen für die Protestler einen möglichen Grund für weitere Proteste gegen die Justiz: Die Gerichtsbarkeit der Weltregierung wird durch einen dreiköpfigen Richter verkörpert. Während der rechte Kopf stets die härteste Strafe und der linke Kopf die Freilassung fordert, steht der mittlere Kopf seiner eigenen Aussage zufolge für den Mittelweg – verhängt aber meist die Todesstrafe.
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