Vom Freiheitskämpfer zum Diktator: Ortega-Clan festigt seine Macht in Nicaragua
Rosario Murillo und Daniel Ortega regieren Nicaragua mit eiserner Hand.
Von den 1.440 Minuten, die ein Tag hat, durfte Dora María Téllez nur eine einzige sprechen. Sie bekam kaum zu essen, war in permanenter Dunkelheit und unter ständiger Beobachtung. Insgesamt 606 Tage verbrachte die nicaraguanische Politikerin und Historikerin in einer Einzelzelle des berüchtigten Foltergefängnisses "El Chipote".
Der Mann, der sie wegen "Verschwörung gegen den Staat" zu acht Jahren Haft verurteilen ließ, war einmal ihr Verbündeter: Daniel Ortega, einst gefeierter linker Revolutionär und heute selbst ein brutaler Herrscher in dem zentralamerikanischen Land.
In den 1970er-Jahren kämpften beide Seite an Seite gegen das Somoza-Regime in Nicaragua. Téllez, damals eine 22 Jahre alte Medizinstudentin, besetzte 1978 mit einer sandinistischen Guerillaeinheit den Nationalpalast, nahm Parlamentarier als Geiseln und presste politische Gefangene frei. Im Jahr darauf fiel das Regime. Ortega wurden in den 1980ern erstmals Präsident und Téllez seine Gesundheitsministerin.
Inzwischen zählt die ehemalige "Comandante Dos" zu den schärfsten Kritikern Ortegas, der seit seiner Rückkehr an die Macht (2007) das mittelamerikanische Land immer autoritärer regiert: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung oder freie Wahlen gibt es längst nicht mehr. "Eine Verfassungsreform vom Jänner hat die Diktatur endgültig institutionalisiert", sagt Téllez bei einem Wien-Besuch zum KURIER. Präsidentengattin Rosario Murillo, die eigentliche Machtzentrale, rückte zur "Co-Präsidentin“ auf. Ein Sohn bringt sich für die Nachfolge in Stellung.
Regime greift hart durch
Der Ortega-Clan kontrolliert heute Parteien, Justiz und Medien im Land. Gegen politische Gegner greift sein Machtapparat – vor allem Polizei und Paramilitärs – brutal durch. Seit den niedergeschlagenen Massenprotesten 2018 wurden mehr als 5.000 Menschen inhaftiert, rund 400 getötet; Hunderttausende sind geflohen. Gegnern entzieht das Regime die Staatsbürgerschaft - so auch Téllez. Eine UN-Expertengruppe hat mehr als 500 solcher Fälle dokumentiert.
Das Präsidentenpaar (Rosario Murillo und Daniel Ortega) regiert Nicaragua mit eiserner Hand.
Viele Geflohene suchten Schutz in den USA, wo mehr als 90.000 Menschen über ein Programm der Biden-Administration aufgenommen wurden. Unter Präsident Donald Trump wurde es abrupt beendet. Wer kein Asyl besitzt oder in einem Asylverfahren ist, wird abgeschoben. Im Dezember soll Washington zudem über eine mögliche Aussetzung des Freihandelsabkommen mit Nicaragua entscheiden.
Zugleich spürt Ortega das harte Vorgehen der USA gegen Nicolás Maduro in Venezuela, neben Russland und China ein wichtiger Verbündeter: "Ortega hat ebenfalls reichlich Gründe, besorgt zu sein über eine so massive militärische Präsenz der USA, bei der niemand weiß, wohin sie führt“, so Téllez. "Die Schwächung Venezuelas schwächt auch Ortega."
Keine Opposition möglich
Téllez selbst brach bereits in den 90ern mit Ortegas Sandinistischer Front und gründete eine (inzwischen verbotene) Partei mit. Eine echte Demokratie, sagt sie heute, habe ihr ehemaliger Weggefährte nie wirklich etablieren wollen: "Er ist Teil der lateinamerikanischen revolutionären Linken der 60er-Jahre, die einen starken Fokus auf soziale Gerechtigkeit, aber keinerlei Verpflichtung gegenüber der liberalen Demokratie hatte. Das nächste Vorbild war Kuba, ein Einparteienregime.“
Heute verfolge das Ortega-/Murillo-Regime Téllez zufolge “keinerlei Ideologie“, sei kaum vom ehemaligen Somoza-System zu unterscheiden: "Es ist eine Familien-Oligarchie, die nur ein Ziel hat: Reichtum und Macht.“ Die nächsten Wahlen, die wieder skrupellos gefälscht werden dürften, wurden auf 2027 hinausgezögert. Die Oppositionelle schätzt den Rückhalt in der Bevölkerung für das Präsidentenpaar auf gerade einmal 12 bis 15 Prozent.
20 Monate verbrachte Dora María Téllez in Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis "El Chipote".
Von der internationalen Gemeinschaft fordert sie mehr Rückendeckung: Schutz für Exilanten, Unterstützung für NGOs und unabhängige Medien im Ausland. Die EU solle das Assoziierungsabkommen mit Nicaragua überprüfen. "Wenn die EU akzeptiert, dass die darin enthaltene Demokratie-Klausel verletzt wird, gibt sie dem Regime stillschweigend ihre Zustimmung.“
Kam 2023 mit Hilfe der USA frei
Auch ein humanitärer Korridor für verbliebenen politischen Gefangenen ist eine zentrale Forderung. Téllez selbst kam 2023 gemeinsam mit 221 weiteren Regimegegnern durch den Einsatz der USA frei. Heute lebt sie in Spanien.
Die Folgen der Isolationshaft – chronische Erschöpfung, Gedächtnislücken – spürt die inzwischen 70-Jährige mit den kurzen grauen Locken noch immer. Und dennoch, so sagt sie, habe sie die Zelle ohne Hass verlassen. "Wenn du mit Hass hinausgehst, haben sie gewonnen. Dann wirst du wie sie. Genau das ist mit Daniel Ortega passiert: Er ist zu seinem eigenen Feind geworden.“
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