NATO in der Krise: Kann sie US-Präsident Trump überleben?

NATO-Soldaten bei einem Manöver
Das westliche Militärbündnis wird im April 70 Jahre alt. Gefeiert wird ohne US-Präsident Trump

Das Risiko, dass Donald Trump wieder einmal alle Gäste brüskiert, will man in der NATO nicht mehr eingehen. Und so wird der 70. Jahrestag der Militärallianz heuer eher unauffällig am 4. April nur von den NATO-Verteidigungsministern und nicht mit einem großen Gipfeltreffen begangen.

Doch der US-Präsident bleibt für die NATO ein gewaltiges Problem. Er kündigt Abrüstungsabkommen. Er attackiert kontinuierlich die europäischen Verbündeten wegen ihrer zu niedrigen Verteidigungsausgaben. Er bezeichnete die Allianz gar einmal als „obsolet“. Und Trump stieß sämtliche NATO-Partner vor den Kopf, als er überraschend ankündigte, Amerikas Soldaten aus Afghanistan und Syrien abzuziehen.

Steckt die NATO an ihrem 70. Jahrestag also in der Krise? Und wie geht die in die Jahre gekommene westliche Militärallianz angesichts dieser inneren Zerwürfnisse mit den Herausforderungen durch Russland oder China um?

„Indem die NATO gute Antworten findet“, meint NATO-Kenner Jamie Shea völlig unaufgeregt. Fast 40 Jahre lang hat der britische Historiker und Strategie-Experte für die Allianz gearbeitet. Er war während des Kosovo-Krieges als Sprecher der NATO quasi ihr „Gesicht“. Der mit viel Witz und trockenem britischen Humor argumentierende Shea gilt als einer der besten Kenner der NATO überhaupt.

KURIER: Ausgerechnet Donald Trump, der Präsident des mächtigsten NATO-Landes, stellt die Militärallianz in Frage. Ist die NATO in der Krise?

Jamie Shea: Ich habe Präsident Trump ein paar Mal bei NATO-Gipfeln miterlebt. Ich sehe ihn als einen Menschen, der alles und alle Verträge in Frage stellt, nicht nur bei der NATO. Er mag keine heiligen Kühe, keine konventionellen Erfahrungen. Er fragt seine Berater: Was holen wir da wirklich für uns raus? Das ist für die NATO eine Herausforderung, darauf müssen wir gute Antworten finden. Aber Krise ist für die NATO eine Art Normalzustand.

NATO in der Krise: Kann sie US-Präsident Trump überleben?

NATO-  und Strategie-Experte Jamie Shea

Wie sieht es tatsächlich aus? Ziehen sich die USA aus der NATO zurück?

Trump bezieht sich in seiner Kritik immer auf das Teilen der Lasten. Er hat diese Debatte nicht erfunden. Die USA tragen 70 Prozent zum NATO-Budget bei. Viele US-Präsidenten, von Eisenhower über Kennedy, Nixon bis Obama haben das Ungleichgewicht zwischen amerikanischem und europäischem Engagement kritisiert. Und ehrlich, das hätten wir schon längst lösen sollen. Als die USA 1949 den NATO-Vertrag unterschrieben haben, war er nur für 20 Jahre gedacht. Die Amerikaner sahen die NATO nie als eine permanente Garantie für Europas Sicherheit an. Sie sahen sie als vorübergehende Unterstützung, um den Europäern zu ermöglichen, sich nach dem Krieg wieder auf die Füße zu stellen und sich selbst zu verteidigen.

Aber abseits der politischen Rhetorik sieht man, was die USA tatsächlich tun. Sie haben ihre Verteidigungsausgaben für Europa erhöht. Als Obama Präsident war, betrug diese Summe rund 700 Millionen Dollar pro Jahr. Mit Trump sind es jetzt rund fünf Milliarden Dollar pro Jahr.

Und die Europäer?

Tatsächlich wurde in Europa der Abwärtstrend gestoppt, seit Trump Präsident ist. Die Europäer haben seit 2016 rund 45 Milliarden Euro mehr für ihre Verteidigung aufgewendet. Bis Ende 2020 sollen es 100 Milliarden und bis 2024 etwa 300 Milliarden mehr sein.

NATO in der Krise: Kann sie US-Präsident Trump überleben?

Heißt der wichtigste Gegner der NATO demnächst China?

Politikprofessoren sehen gerne die aufstrebende Macht als den klassischen Kriegsgrund. Sie fordert die bestehende Macht heraus, wenn man etwa Thukydides, dem Autor der Peloponnesischen Kriege, folgt. Ich sehe das nicht als unausweichlich an. Aber China ist wahrscheinlich der größte Faktor für die Neuordnung der internationalen Ordnung, wegen seiner wirtschaftlichen Macht, seiner Technologie, seiner enormen Investitionen.

Wie gehen wir deshalb mit China künftig um? Wir brauchen das chinesische Engagement, es kann gute Seiten haben. China hat 30.000 Mann in UN-Friedensmissionen entsandt. Es akzeptiert seine internationale Verantwortung. Was wir aber absolut nicht tun sollen, ist unsere Militärplanung neu gegen China umzuprogrammieren. Auf keinen Fall.

Aber die NATO muss ihre Bürger beschützen, nicht nur vor Panzern und unmittelbaren, konventionellen Bedrohungen, sondern vor allen Sicherheitsbedrohungen: Sie muss Schutz bieten gegen Cyberangriffe, vor Kontrollverlust über unsere Infrastruktur, unsere Mobilität, unsere Häfen und Flughäfen – weil sie unter die Kontrolle einer fremden Macht kommen könnten.

Heute erlaubt technologische Dominanz, die objektiven Ziele eines Krieges zu erreichen – ohne dass man kämpfen muss. Die Frage ist also: Wie kann man durch gute Politik heute vermeiden, dass diese Bedrohungen in 20 oder 30 Jahren erst gleich gar nicht passieren werden?

Apropos konventionelle Bedrohung: Bedeutet das Ende des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) den Beginn eines neuen Wettrüstens?

Der INF hat eine ganze Kategorie von Waffen, konventionelle und nukleare Raketen, eliminiert. Es war nicht nur ein Abkommen, es hat die Atmosphäre zwischen den USA und der Sowjetunion völlig verändert. Es war ein Pass auf dem Weg aus dem Kalten Krieg hinaus. Es hat also enorme Bedeutung. Diese Verträge sind aber an die heutigen Umstände nicht ausreichend angepasst. Wir haben China, Iran, Nordkorea, 25 Länder mit ballistischen Raketen. Aber man muss sich fragen: Wer profitiert von einem Wettrüsten? Und wessen Gesellschaft steigt danach sicherer aus? Aus NATO-Sicht gibt es keinen Zweifel, dass Russland den INF-Vertrag verletzt hat. Aber meine Hoffnung ist: Bis der Vertrag endgültig ausläuft, dauert es noch fast sechs Monate. Man könnte also noch zu einem Kompromiss finden. Man könnte zu einem globaleren Abkommen kommen, in das auch andere Staaten herein geholt werden.

Wie sehen Sie neutrale Länder wie Österreich? Kann man immer neutral bleiben?

Neutralität sollte nicht Gleichgültigkeit bedeuten. Oder Mangel an Engagement. Die positive Seite an Neutralität ist, dass es in dieser steigenden Spannung in der internationalen Welt mehr Gelegenheiten gibt, Brücken zu bauen. Wir erinnern uns an Bruno Kreisky oder an Olof Palme in Schweden. Österreich hat in der NATO viel mit anderen Partnern beim Schutz für Zivilisten gearbeitet. Ein Land wie Österreich kann eine Rolle spielen, wenn es weise wählt, wofür es sich einsetzt.

Kommentare