„Nationale Schande“: Das lange Warten auf der „Diciotti“
Am Donnerstagabend machten sich hunderte Bewohner von Catania auf zum Hafen und brachten für die Flüchtlinge an Bord der „ Diciotti“ Arancini (frittierte Reisbällchen), eine für Sizilien typische Köstlichkeit mit. Doch das Schiff der Küstenwache mit 148 Menschen an Bord – 27 Minderjährige durften am Mittwoch an Land – wird von den Sicherheitskräften weiträumig abgeriegelt. „Leider dürfen wir das Essen nicht zu den Flüchtlingen bringen, aber es ist ein symbolischer Akt für unsere Gastfreundschaft“, sagte eine Signora. „Catania ist eine solidarische und offene Hafenstadt. Wir wollen ein Zeichen gegen die unmenschliche Politik setzen. Die Behörden sollen die Leute an Land holen“, forderten die Aktivisten.
Das Marineschiff musste gestern den vierten Tag im Hafen von Catania ausharren. Unter gnadenlos aufs Deck brennender Sonne. Am Donnerstag machte sich Riccardo Magi, Politiker der Radikalen Partei, ein Bild von der „verheerenden Situation“. Seine Fotos auf La Repubblica-online dokumentieren die dramatische Lage. Erschöpfte Frauen und Männer suchen in provisorischen Zeltlagern Schutz vor der Sonne.
Sehr betroffen von der „kritischen Lage“ an Bord zeigte sich auch der Staatsanwalt von Agrigento, Luigi Patronaggio, nach seinem Besuch am Mittwoch. „Viele Menschen benötigen dringend medizinische Hilfe. Die Situation ist äußerst kritisch. Es gibt viele Fälle von Hautkrankheiten wie die Krätze.“ Die Staatsanwaltschaft von Agrigent ermittelt wegen Personenentführung.
„Will man mich wegen Personenentführung anzeigen? Meine Aufgabe ist der Schutz der italienischen Grenzen“, kontert Innenminister Matteo Salvini, für den sich auf dem Schiff nur „illegale Migranten“ befinden. Sein Ziel ist das australische No Way-Modell. „Kein im Meer geretteter Migrant darf australischen Boden betreten, das soll auch für Italien gelten“, erklärte Salvini in einem Radiointerview.
Der Chef der ausländerfeindlichen Lega-Partei urlaubt derzeit in Pinzolo im Trentino. Seinen Anhängern schickt er virtuelle Küsse und Bilder aus den Bergen. 1000 Kilometer weiter südlich, spitzt sich die Lage hingegen weiter dramatisch zu: Neun Tage dauert mittlerweile die Odyssee der „Diciotti“, die fünf Tage vor der Insel Lampedusa auf eine Anlegeerlaubnis in einem italienischen Hafen warten musste. Wann die Menschen von Bord dürfen, ist weiter unklar.
Nicht über dem Gesetz
Der Widerstand gegen Salvini wächst. In der Zivilgesellschaft ebenso wie in der Opposition. Der Chef der Demokratischen Partei, Maurizio Martina, kritisiert die „Geiselhaft“ der Menschen. Hilfsorganisationen appellieren an das humanitäre Gewissen im Land. Ex-Premier Paolo Gentiloni fand auf Twitter klare Worte: „Der Innenminister kann sich nicht über das Gesetz stellen, er leitet nicht die Regierung, und er ist auch nicht der Chef der Küstenwache, ebenso wenig hat er die Entscheidungsmacht über das Schicksal von Kindern und die Verurteilung von Erwachsenen. Die ,Diciotti’ ist eine nationale Schande.“
Heute, Freitag, soll bei einem EU-Treffen in Brüssel über das weitere Vorgehen beraten werden. Bisher hat sich noch kein Land konkret bereit erklärt, einen Teil der Menschen von der „Diciotti“ aufzunehmen.
Irene Mayer-Kilani, Rom
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