Briten erwarten bis zu 100.000 neue Corona-Fälle pro Tag

Auch die Maskenpflicht in der Londoner U-Bahn soll fallen
Premier Johnson bleibt bei seinem Öffnungsplan mit 19. Juli. Kritik kommt von allen Seiten. Gesundheitsminister Javid verteidigt die Pläne, sagt aber auch, man betrete "unbekanntes Gebiet". 

Es bleibt beim 19. Juli, dann sollen alle verbleibenden Corona-Maßnahmen in England fallen. Das hat der britische Premierminister Boris Johnson gestern noch einmal klargestellt. Dazu zählen Abstandsregeln und Maskenpflicht. Nachtclubs und Discos dürfen wieder öffnen, für Veranstaltungen gibt es keine Zuschauerbegrenzungen mehr. Und das obwohl die Zahlen aufgrund der Delta-Variante wieder in die Höhe schnellen. Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Neuinfektionen pro 100.000 Menschen binnen einer Woche, wurde zuletzt mit 229,9 angegeben (Stand: 30. Juni). Zum Vergleich: Österreich liegt hier aktuell bei 6. 

Die Kritik an den Öffnungsplänen ist heftig. Ärzte, Gewerkschaften und Opposition kritisieren vor allem die Entscheidung, die Maskenpflicht im Nahverkehr und Handel aufzuheben.

Gesundheitsminister geht von großem Anstieg aus

Der britische Gesundheitsminister verteidigt dagegen Johnsons Pläne, obwohl auch er offenbar einen sehr hohen Anstieg bei den Neuinfektionen erwartet. Sajid Javid räumte eben diesen in einem Interview mit dem Radiosender BBC 4 ein: "Wenn wir den 19. Juli erreicht haben, erwarten wir, dass sich die Zahl an Neuinfektionen im Vergleich zu heute zumindest verdoppeln wird, es geht also um ca. 50.000 neue Fälle pro Tag. Wir lockern und kommen in den Sommer, dann erwarten wir einen bedeutenden Anstieg. Die Zahlen könnten um die 100.000 Fälle pro Tag betragen," sagte der Minister.

Briten erwarten bis zu 100.000 neue Corona-Fälle pro Tag

Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid

Wichtiger als die Neuinfektionen seien aber die Zahlen zu den Krankenhausaufenthalten und den Todesfällen. Javid betonte, der Einsatz von Impfstoffen habe die Verbindung von Infektionen und Krankenhauseinweisungen sowie Todesfällen "stark geschwächt."

"Die Impfstoffe wirken, sie sind unser Schutzwall", sagte Javid bei Sky News. "Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben."

Der Minister sagte auch, es sei an der Zeit, sich verstärkt um andere Gesundheitsprobleme zu kümmern. Millionen Menschen hätten sich während der Pandemie mit ihren Sorgen nicht an den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) gewandt. Dies müsse ebenfalls eine Priorität sein. "Es kann nicht nur immer um Corona gehen", sagte Javid.

Trotzdem schloss Javid auf BBC 4 neuerliche Corona-Maßnahmen nicht gänzlich aus, aber: "Ich hoffe nicht, dass ist sicher nicht unser Plan." England betrete nun "unbekanntes Gebiet". 

Kritik von allen Seiten

Auf die Wirkung der Impfungen scheinen manche nicht vertrauen zu wollen. Es sei besorgniserregend, dass Johnson die Lockerungen "mit Vollgas" durchsetze, sagte der Chef der Ärztevereinigung BMA, Chaand Nagpaul.

Die Gesundheitswissenschaftlerin Devi Sridhar sprach bei Sky News von einem "massiven Experiment".

Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei nannte Johnsons Pläne "rücksichtslos". Der Bürgermeister der Metropolregion Liverpool, Steve Rotherham, wies auf eine Yougov-Umfrage hin, laut der 71 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Maskenpflicht sind. Londons Bürgermeister Sadiq Khan kündigte an, das Maskentragen in U-Bahnen, Bussen und Zügen mit Verkehrsunternehmen und der Regierung zu besprechen. "Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich", twitterte Khan.

Aufatmen bei Wirtschaftsvertretern

Wirtschaftsvertreter reagierten hingegen erfreut. Der Branchenverband UK Hospitality, der Gaststätten und Tourismusbetriebe vertritt, lobte die Ankündigung als Meilenstein. Der Kneipenverband British Beer and Pub Association wies darauf hin, dass endlich mehr als 2000 Pubs öffnen könnten, die wegen strenger Abstandsregeln derzeit immer noch geschlossen haben. Auch die Veranstaltungsbranche zeigte sich begeistert. Der Industrieverband CBI begrüßte die Pläne ebenfalls, mahnte aber, Unternehmen müssten die Sicherheit ihrer Angestellten an erste Stelle setzen.

Pläne für Schulen und Reisen

Offen ist noch, wie sich die Pläne auf Schulen und Reisen auswirken. Erwartet wird, dass ebenfalls vom 19. Juli an nur noch Schüler in Selbstisolation müssen, die positiv getestet werden. Ihre Klassenkameraden können dennoch in die Schulen gehen - bisher müssen sie ebenfalls in häusliche Quarantäne. Geplant ist zudem, dass vollständig Geimpfte nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Deutschland, die auf einer "gelben Liste" stehen, nach Ankunft nicht mehr in Selbstisolation müssen.

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