"In meinen Träumen sehe ich sie dort noch liegen"
Samira Calehr wünscht sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen. Am Donnerstag der Vorwoche verabschiedete die Niederländerin ihren Sohn Miguel am Flughafen von Amsterdam. Mit seinem älteren Bruder Shaka und der Oma sollte der Zehnjährige zu einem Urlaub nach Bali aufbrechen. "Was, wenn das Flugzeug abstürzt?", fragte Miguel ängstlich. "Sei nicht dumm, du bist doch schon so viel geflogen", versuchte seine Mutter ihn zu beruhigen. "Es wird nichts passieren."
Wenige Stunden später ist klar: Samira Calehr wird Miguel und Shaka (19) nie wieder sehen. Sie sind zwei der 193 niederländischen Opfer des Flugzeugabschusses in der Ostukraine. Ihre Trauer teilt Calehr mit ihrem mittleren Sohn Mika (16). Er lebt, weil er an Bord von Flug MH 17 keinen Sitzplatz mehr bekommen hatte. Er sollte mit einer späteren Maschine nach Bali reisen.
Ungewissheit belastet
Diese Ungewissheit macht es den Hinterbliebenen laut Psychologen noch schwerer, mit dem Verlust fertig zu werden. Fragen wie "mussten sie leiden?" quälen Mütter, Väter, Kinder und andere Angehörige; der Gedanke, dass die Leichen ihrer Lieben irgendwo in der Fremde in der Hitze verrotteten, ist unerträglich.
Nachrichten und Fotos verbreiten sich durch Facebook und Co. binnen Minuten auf der ganzen Welt, oft ungefiltert. Bilder von der Absturzstelle, die in Zeitungen und Fernsehen aus Pietätsgründen oft nicht gezeigt werden, sind im Internet für jeden zugänglich. "Ich konnte dem Drang nicht widerstehen und habe auf den Fotos nach der Leiche meines Sohnes gesucht", sagt Silene Fredriks-Hoogzand. Bryce und seine Freundin Daisy waren auf dem Weg nach Bali, wo sich Daisy durch einen vierwöchigen Urlaub vom Tod ihrer Mutter zwei Monate zuvor erholen sollte. Die Reise endete auf den Feldern rund um das ukrainische Grabove. "In allen meinen Träumen sehe ich sie dort noch liegen", berichtet Silene Fredriks-Hoogzand unter Tränen.
Für zahlreiche Angehörige starb die Hoffnung, dass ihre Lieben vielleicht doch überlebt haben, mit einem Anruf auf deren Handys: Unbekannte hoben ab, die russisch oder ukrainisch sprachen. Offensichtlich waren die Absturzstelle geplündert, die Habseligkeiten der Toten durchwühlt worden.
Die Art, wie mit den Leichen umgegangen wurde, entsetzt und verärgert viele Hinterbliebene. Die Toten seien wie Müll behandelt worden: Zuerst tagelang liegen gelassen, dann in Säcke gestopft, auf Lastwagen geladen und später in Zügen übereinander gestapelt. Vorwürfe, die man oft hört.
Hass und Versöhnung
"Wir hätten gern ein Grab und etwas, das wir hineinlegen können", sagt Harun, der Onkel der getöteten niederländischen Buben Miguel und Shaka. Wann das der Fall sein wird, ist offen. Am Mittwoch trafen die ersten 40 Leichen in den Niederlanden ein, nach und nach sollen alle Toten hier identifiziert werden. Die bisher geborgenen Absturzopfer sind von den pro-russischen Rebellen in die ukrainische Stadt Charkiw gebracht worden, die von Kiew kontrolliert wird. Laut US-Angaben fehlen dort aber immer noch 100 Leichen.
Die Angehörigen gehen unterschiedliche Wege, um mit ihrem Verlust fertig zu werden. Einer ist Hass, das Verlangen nach Rache: "Danke, Herr Putin, dass sie meine Tochter, mein einziges Kind, getötet haben", schrieb ein verzweifelter Vater in einem offenen Brief an den russischen Präsidenten, der die Rebellen unterstützen soll.
Anthony Maslin und Marite Norris gehen einen anderen Weg. Die beiden Australier haben ihre drei Kinder beim Absturz verloren: Mo (12), Evie (10) und Otis (8). Die Geschwister waren auf dem Rückweg von einem Urlaub mit ihrem Opa Nick Norris, wollten rechtzeitig vor Ferienende in Australien wieder zu Hause sein.
Die Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland nehmen Gestalt an – beschlossen werden sie aber, wenn überhaupt, frühestens nächste Woche. Die EU-Kommission erfüllte am Donnerstag den Auftrag, den ihr die Außenminister zwei Tage zuvor gegeben hatten: Die Brüsseler Behörde legte eine Liste mit konkreten Vorschlägen vor, wie die nächsten Schritte gegen Russland aussehen könnten – inklusive eines Embargos von Rüstungsgütern und „sensitiver Technologie“, etwa im Energiebereich.
Konkret beschlossen die EU-Botschafter am Donnerstag die Erweiterung der Liste jener Personen, für die Einreiseverbote gelten und deren Konten gesperrt sind. Die Zahl der Betroffenen erhöht sich damit auf 87. Erstmals wurden auch 18 Organisationen und Unternehmen auf eine schwarze Liste gesetzt. Keine Entscheidung gab es hinsichtlich eines Waffenembargos.
Der weitere Maßnahmen-Katalog, der am Donnerstag in Brüssel von den EU-Botschaftern besprochen wurde, umfasst auch den Finanzbereich: Laut Diplomaten hat die Kommission ein Kaufverbot von russischen Aktien und Anleihen vorgeschlagen. Das soll die Finanzierung jener Banken erschweren, an denen der russische Staat mindestens 50 Prozent besitzt.
Einen Beschluss über weitere Sanktionen soll es frühestens kommende Woche geben: Am Dienstag tagen erneut die Botschafter, dann soll Ratspräsident Herman Van Rompuy das weitere Vorgehen festlegen. Er soll in Absprache mit den Hauptstädten entscheiden, ob weitere Sanktionen abgesegnet werden – oder ob es kommende Woche einen EU-Sondergipfel dazu geben soll.
Blick nach Moskau
„Entscheidend ist das Verhalten Russlands in den nächsten Tagen“, sagte ein EU-Diplomat zum KURIER. „Moskau muss kooperieren, damit alle Opfer von MH 17 nach Hause gebracht und beerdigt werden können. Der Kreml muss auch die Unterstützung der Separatisten, vor allem den Zustrom von Waffen über die Grenze in die Ostukraine stoppen.“
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel pocht darauf, dass Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt werden: Da Moskau kein Interesse an einer Aufklärung des Absturzes des Fluges MH 17 gezeigt habe, halte die Kanzlerin rasche Beschlüsse für nötig, hieß es in Berlin. Deutschland setzt sich aber für eine zeitliche Begrenzung harter Sanktionen ein: Damit soll Moskau der Weg zurück zur Normalität offengehalten werden.
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