Insel Kihnu in der Ostsee: Das letzte Matriarchat Europas

Kaja Kallas ist eine erfahrene Tänzerin. Jahrelang habe sie Unterricht genommen, erklärte die estnische Ministerpräsidentin am Donnerstag in der Ehrenloge des Wiener Opernballs, sich sogar auf Walzer spezialisiert. Bei dem plötzlichen Themenwechsel im ORF-Interview dürfte ihr dennoch schwindelig geworden sein.
„Wir haben noch nicht darüber geredet“, meinte Kallas mit Blick auf Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und verzog das Gesicht. Dann fügte sie lachend hinzu: „Ich glaube, er hat Angst davor.“ Kallas war auf einen Ort in ihrer Heimat angesprochen worden: Die kleine Ostsee-Insel Kihnu, gerade einmal sieben Kilometer lang und halb so breit, die sich bis heute eine kulturelle Eigenheit bewahrt hat – dort haben Frauen das Sagen.
Die Frage, die Kallas zum Schmunzeln brachte, lautete also: Könnte ein solches Matriarchat auch in Österreich funktionieren?
Männer? Die waren lange nur auf dem Meer unterwegs
Die Sonderstellung der Frauen auf Kihnu ist schon anhand ihrer Kleidung ersichtlich. Sie alle tragen bunte, reich verzierte Röcke und Schürzen, alle selbst gestrickt und schon im Kindesalter an die Töchter weitergegeben.
Frauen bestimmen die dörfliche Politik der 600-Einwohner-Insel, sie entscheiden darüber, wann die Arbeit auf den Feldern und in den Wäldern aufgenommen wird – und wann sie wegen des harschen finnischen Winters zu enden hat. Der Dialekt auf Kihnu macht deutlich, welche Rolle der Winter hier spielt: „Tie“ nennt man dort Eis, das hart genug ist, um darauf stehen zu können, „Tuulõeauk“ dagegen ist nur eine dünne, trügerische Eisfläche.
Die Frauen auf Kihnu organisieren und führen durch alle traditionellen Zeremonien, von Hochzeiten bis zu Begräbnissen. Beide Feste sind Pfeiler der matriarchalen Gesellschaft: Nur verheiratete Frauen gelten als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft und dürfen eines der bunten Kopftücher tragen. Ältere Frauen verbringen dagegen oft viele Jahre damit, die festlichen blauen Kleider anzufertigen, in dem sie beerdigt werden. Auch blaue Handschuhe stricken die Frauen – für ausgewählte Männer, die ihren Sarg zu Grabe tragen dürfen.

Eine Frau auf Kihnu arbeitet zu Hause.
Apropos Männer: Früher sah man davon tagsüber fast keine auf Kihnu, ihr Alltag bestand darin, auf Booten in der Ostsee Fische zu fangen und Robben zu jagen. Heute kann es durchaus vorkommen, dass man ein paar Männer antrifft, die bei der Wald- und Feldarbeit aushelfen.
Armut und Alkohol
Auch wenn Kihnu wirkt wie ein Ort aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt, sind die Insel und ihre Traditionen dabei, sich zu verändern. Daran ist zum einen die wirtschaftliche Lage schuld: Die Dörfer sind verarmt, die Gewässer nicht mehr so ergiebig wie früher. Viele junge Frauen und noch mehr junge Männer suchen deshalb ihr Glück auf dem Festland – und versuchen, über eine gute Ausbildung und einen guten Job Geld nach Hause zu schicken.
Eine entscheidende Phase war aber auch die Zeit, in der Kihnu Teil der Sowjetunion war. Die Besatzer brachten den Alkohol auf die Insel, der seither eine der häufigsten Todesursachen ist.
Ob eine Gesellschaft wie auf Kihnu auch anderswo möglich wäre? Klar ist: Das dortige Matriarchat ist eine Folge der einzigartigen Umstände, mit denen die Inselbewohner zu leben gelernt haben. In einer Sache ist aber auch das estnische Festland einen Schritt näher dran als Österreich: Mit Kaja Kallas steht dort seit 2021 eine Frau an der Spitze der Regierung.
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