Durchs Parlament geschleust
Ein Jahr später lässt sich von den guten Absichten von damals wenig erkennen. Zwar verlor die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen im Juni die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung und ist seitdem auch auf Stimmen aus der Opposition angewiesen. Doch die Bildung von Koalitionen scheiterte. Stattdessen hat die Regierung ihre Rentenreform im Turboverfahren durch das Parlament geschleust und sie ohne Abstimmung verordnet. Einem Misstrauensvotum entging sie nur knapp. Die massiven Proteste und Streiks vermochten nichts auszurichten. Macron argumentierte, die Anhebung der Altersgrenze von 62 auf 64 Jahre sei notwendig, um das finanzielle Gleichgewicht des Rentensystems zu bewahren. Er hatte die Reform zum zentralen Projekt erklärt. Doch die Wut über den Handstreich bleibt groß.
Bei einem Besuch im Elsass vor einigen Tagen wurde Macron ausgebuht, Menschen schlugen laut auf Kochtöpfe. Bereits zuvor hatten die Aktivisten von Attac zu dieser Form des Protests während einer Fernsehrede Macrons aufgerufen. „Mit Kochtöpfen bringt man das Land nicht voran“, kommentierte dieser.
Als er am Folgetag in ein Dorf in Südwestfrankreich kam, sortierten die Sicherheitskräfte vorab Passanten mit Kochtöpfen aus. Zu negativ erschienen die Bilder, die zu den schlechten Beliebtheitswerten passen. Umfragen zufolge büßte der Staatschef innerhalb eines Jahres deutlich an Zustimmung ein. 46 Prozent der Menschen sind „sehr unzufrieden“ mit ihm, ein Rekordtief.
Die kraftraubende Umsetzung der Rentenreform nimmt die Bilanz dieses ersten Jahres von Macrons zweiter Amtszeit ein. Weniger Aufmerksamkeit erhielten andere, recht schnell verabschiedete Gesetze, etwa zur Beschleunigung der Genehmigung und des Baus neuer Atomreaktoren sowie des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Von den chaotischen vergangenen Monaten profitiert hat vor allem Le Pen. 39 Prozent der Menschen sehen sie positiv – so viele wie nie zuvor.
Dabei halten sich die 88 Abgeordneten ihrer Partei in der Nationalversammlung stark zurück. Sie folgen Le Pens Anweisung, diskret aufzutreten, die mit Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 ihre Regierungsfähigkeit beweisen will.
Konservative im Eck
An den Rand der Spaltung gerieten die konservativen Republikaner. Ein Teil von ihnen wollte der Heraufsetzung des Rentenalters, die ihre Partei seit Jahren fordert, nicht aus Opportunismus im Weg stehen; andere lehnten es ab, Macron beizuspringen. Gestärkt gingen sie aus der Episode nicht heraus.
Der Präsident hat die politische Landschaft dauerhaft durcheinander gewirbelt. Vier Jahre bleiben ihm noch im Amt, eine neuerliche Kandidatur 2027 verbietet ihm die Verfassung. Das Land sei unter Macron auf einem guten Weg, versichert Pieyre-Alexandre Anglade, Abgeordneter der Regierungspartei: „Er hat die Arbeitslosigkeit stark gesenkt, kein anderes EU-Land verzeichnet mehr ausländische Investitionen.“
Schulreform
Auch der Präsident selbst will positiv erscheinen und nach vorne blicken. Nun kündigte er unter anderem eine Reform der Berufsschulen, die Einstellung von 10.000 neuen Richtern, eine bessere Bezahlung der Lehrer und Unterstützung für die überlasteten Notaufnahme an. Er gebe sich „100 Tage für die Beruhigung“ des Landes, sagte er – und klang wie bei seiner Wahl vor einem Jahr versöhnlich und kompromissbereit. Mehr als schöne Worte? Seine Gegner warten ab.
Kommentare