Russlands Hauptstadt ist eine Problemzone für den russischen Präsidenten. Am Sonntag finden nun wieder Lokalwahlen statt. In mehreren Regionen werden Lokalvertretungen gewählt. In Moskau geht es um das Stadtparlament. Wahlen, die einen langen Schatten vorausgeworfen haben. Wahlen aber vor allem, die in generellem Protestklima stattfinden – und das nicht nur in Moskau, wo Protest noch am ehesten ein Breitenphänomen ist.
Was die russische Hauptstadt seit Juli erlebt, ist die größte Demonstrationswelle seit den Massenprotesten 2012. Jede Woche kam es zu Kundgebungen. Fast jede Woche kam es auch zu Ausschreitungen. Der Anlass der Proteste: Die Behörden hatten zahlreiche Kandidaten zur Wahl am Sonntag wegen Formfehlern nicht zugelassen – darunter vor allem Oppositionelle. Der Unmut dagegen resultierte in Ausschreitungen und Massenverhaftungen – was wiederum Proteste anstachelte. Zahlreiche Aktivisten wurden seither zu Haftstrafen verurteilt.
Zuletzt allerdings reagierten die Sicherheitskräfte zurückhaltend. Eine Kundgebung am vergangenen Wochenende verlief erstmals seit Wochen ohne Zwischenfälle. Und schließlich kam es auch zu Freisprüchen angeklagter Oppositioneller – aber auch zu Verurteilungen. Beobachter beurteilten diese Zurückhaltung als Versuch des Kreml, so knapp vor den Wahlen keine generelle Proteststimmung weiter anzustacheln.
Denn zuletzt war eine solche in Russland an allen Ecken und Enden zu bemerken. Und die dabei besonders alarmierende Nachricht für den Kreml: Es sind vor allem auch die Regionen, in denen sich Unmut regt – also mitten in der Machtbasis Putins. Bei solchen Protesten ging es zumeist nicht um die große Politik, sondern um lokale Anliegen: Eine Mülldeponie hier, ein Bauprojekt da, Korruption anderswo. Oder zuletzt im Dorf Nojonoksa am Weißen Meer, wo Bürger einem Lokalpolitiker ihren Frust über die widersprüchliche Informationspolitik nach einer mysteriösen nuklearen Explosion ins Gesicht brüllten. Aber: Solch offen geäußerten Unmut gegenüber Behörden gab es bis vor kurzem in Russland nicht.
Das schlägt sich in Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums nieder. Putins Umfragehoch nach der Annexion der Krim ist dahin, seine Werte liegen praktisch auf dem Stand von Anfang 2014. Die russische Regierung im Allgemeinen wird überwiegend abgelehnt. Vor allem aber sind die Werte der Kreml-Partei Einiges Russland im Keller. In Moskau liegt sie bei nur 22 Prozent.
Die Staatsmacht hat daraus Konsequenzen gezogen: Und so tritt bei der Wahl in Moskau kein einziger Kandidat der Partei an. Alle Kandidaten von „Einiges Russland“ wurden zwar von der Partei nominiert, treten aber offiziell als Unabhängige an. Und so tun es auch sechs der insgesamt 16 Kandidaten für Gouverneursposten in anderen Regionen Russlands. In Khabarowsk im Fernen Osten Russlands wiederum treten die Kandidaten des Kreml gar unter dem Namen einer neuen Partei an: „Zeit für Veränderung“. In der Region Irkutsk heißt ein solches Vehikel „Unser Irkutsk“. Nominiert wurden sie jeweils aber von „Einiges Russland“.
Kalkül
Beobachter sehen dahinter Kalkül: Zum einen wird damit die Parteizugehörigkeit verschleiert, zum anderen stiftet das Verwirrung.
Die Opposition bringt das wiederum in die Defensive: Denn gerade bei den eingangs erwähnten Distrikt-Wahlen in Moskau hatte die Opposition genau auf diese Karte gesetzt: keine Listen, keine Parteien und die damit einhergehenden Grabenkämpfe zwischen den zutiefst zerstrittenen Flügeln in den Reihen der Regimegegner, sondern Politik von unten, freie, unabhängige Kandidaten nahe am Bürger.
Diesmal setzten Teile der Opposition auf eine andere Taktik: Der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny animiert dazu, strategisch zu wählen. Über eine Internetseite will er Wahlempfehlungen an Wähler schicken, um anhand der letzten Umfragewerte die Chancen zu maximieren, Kandidaten von Einiges Russland zu besiegen.
Kommentare