Der Brief der Tuareg an de Gaulle - und vier weitere Gründe für die Putsche im Sahel

Der Brief der Tuareg an de Gaulle - und vier weitere Gründe für die Putsche im Sahel
Mit dem Putsch in Niger ist Nordwestafrika – zumindest für kurze Zeit – im Fokus. Oft wird von Demokratieproblemen oder dem Einfluss anderer Akteure gesprochen, doch die Wurzeln der Konflikte gehen tiefer.

Sieben Putsche in fünf Ländern in drei Jahren – das ist die Bilanz in einer der instabilsten Regionen der Welt: der Sahelzone. Ein hohes Bevölkerungswachstum gepaart mit schwindenden Ressourcen, interethnischen Kämpfen und islamistischem Terrorismus sind die Zutaten für einen Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist. Unabhängig davon, welche Regierung an der Macht ist – und welcher geopolitische Akteur dahinter steht.

  • Verschiedenste Völker in einem künstlichen Staat

Weder Niger noch Mali noch Burkina Faso haben die effektive Kontrolle über den gesamten Staat. Im Norden Malis etwa haben Nomaden das Sagen, Schmuggler, denen die heutigen Grenzen egal sind. Seit Jahrhunderten halten sie an ihren Routen fest, haben Gold, Elfenbein, Drogen und Waffen über Grenzen gebracht, die sie nicht anerkennen. Sie waren vor den Grenzen da.

➤ Wie der "Krieg gegen den Terror" begann - und wohin er geführt hat

Bereits kurz nach der Unabhängigkeit Malis im Jahr 1960 war klar, dass sich die vielen Völker nicht in diesem gemeinsamen Staat integrieren lassen. Kurz zuvor hatten die Tuareg-Nomaden einen Brief an Charles de Gaulle geschrieben, in dem sie darum baten, Franzosen bleiben zu dürfen: „Unsere Interessen und Bestrebungen könnten unter keinen Umständen wirksam vertreten werden, solange wir an ein Gebiet gebunden sind, das zwangsläufig von einer schwarzen Mehrheit repräsentiert und regiert wird, deren ethnische Zugehörigkeit, Interessen und Bestrebungen nicht mit unseren übereinstimmen“, schrieben sie.

Der Brief der Tuareg an de Gaulle - und vier weitere Gründe für die Putsche im Sahel
  • Islamistischer Terrorismus als Mittel zum Zweck

Als Minderheit hatten und haben die Tuareg durch das westlich-demokratische Wahlrecht keine Chance auf politische Mitsprache. Seit einigen Jahren ist der Schmuggel von Migranten Richtung Europa immer lukrativer für sie, aber auch der Kokainschmuggel hat stark zugenommen. Mit der Ausbreitung der Terrorgruppen Al-Qaida und „Islamischer Staat“, deren Ideologien vor allem bei den Nomadenvölkern auf fruchtbaren Boden fallen, hat sich die Lage in der Sahelzone drastisch verschärft.

Dabei ist wichtig zu betonen, dass der islamistische Terror für nicht wenige bewaffnete Gruppen ein Mittel zum Zweck ist, um Schmuggelgeschäfte, Menschenhandel oder den Abbau von Bodenschätzen zu intensivieren.

➤ Nach Putsch in Niger: "Prorussische Trolle geben eine Scheinwelt vor"

Allerdings ist der Dschihad in der Sahelzone nichts Neues: Die Volksgruppe der Fulbe, die sich zum Teil als die Nachfahren von Gefährten des Propheten Mohammed sehen. Im 18. und 19. Jahrhundert probten sie den „Fulani-Dschihad“ und errichteten einige Emirate in der Sahelzone. In Mali machen die Fulbe 16, in Niger 7,6 Prozent der Bevölkerung aus.

Im Jahr 2022 starben in Mali, Burkina Faso und Niger mindestens 7.899 Menschen infolge islamistischer Anschläge. Mehr als 2,9 Millionen Menschen sind innerhalb der Grenzen auf der Flucht.

  • Exponentielles Bevölkerungswachstum

Lebten in den drei Staaten um 1950 noch 11,47 Millionen Menschen, sind es heute 71,53 Millionen. Noch immer bekommen Frauen in der Sahelzone im Schnitt mehr als fünf Kinder – mehr als in jeder anderen Weltregion. 2050 dürften allein in diesen drei Staaten 166,35 Millionen Menschen leben. Wohlstandsgewinne für den Einzelnen sind da auch bei rasantem Wirtschaftswachstum kaum möglich. Von 2009 bis 2019 ist die durchschnittliche Lebenserwartung um fast fünf Jahre gestiegen, was auch der Hilfe westlicher Organisationen zu verdanken ist.

Das Durchschnittsalter in Niger beträgt dennoch 14,5 Jahre, damit ist das Land das jüngste Land der Welt. Vor allem in Zusammenhang mit der zunehmenden Verwüstung der fruchtbaren Böden wird dieses Wachstum unweigerlich zu einer weiteren Verschlechterung der Lage führen – sei es in puncto Versorgung oder Sicherheit. Aufgrund ihrer Perspektivenlosigkeit sind viele junge Männer anfällig für die Rekrutierungsversuche islamistischer Terrororganisationen: Viele schließen sich den Dschihadisten freiwillig an. Diese bieten ihnen nicht nur Lohn und Brot in einer vom Staat vernachlässigten und wirtschaftlich schwachen Region, sondern auch Platz in einer Gemeinschaft und Macht.

Gleichzeitig ist die Perspektivenlosigkeit ein Grund für die antieuropäische Stimmung in den Ländern – man macht vor allem Frankreich dafür verantwortlich, dass sich nichts verbessert habe.

  • Klimawandel als Brandherd für weitere Konflikte

Die Sahara frisst sich weiter nach Süden vor und lässt Jahr für Jahr Acker- und Weideland verschwinden. Es regnet immer weniger und wenn, dann zu stark. Wasserknappheit, Extremwetterereignisse wie Dürren oder Starkregen, ein härter werdender Wettkampf um Land – die Auswirkungen des Klimawandels sind längst spürbar. Gerade in der Sahelzone bildet sich Ödland – die Bauern (etwa die Mande) und die Hirtenvölker (Fulbe) treffen notgedrungen immer öfter aufeinander, ethnische Konflikte stehen auf der Tagesordnung.

  • Mehrere Akteure mit geopolitischen Interessen

Mit dem Ende der französischen Anti-Terror-Missionen, und jenem der EU-Mission EUTM, schwindet der Einfluss Europas in der Region drastisch, was sich auf kurz oder lang auch auf die wirtschaftlichen Verbindungen auswirken wird. Neben der Präsenz der Söldnergruppe Wagner – und damit einem steigenden Einfluss Russlands erhöht auch China seine Präsenz durch Infrastrukturprojekte. Staaten wie Indien und die Türkei bieten jungen Menschen in der Region Stipendien an – und setzen damit auf Einfluss in der Zukunft.

Kommentare