Concordia-Chef: "Ein armes Kind kann seine Flügel nicht aufspannen"

Krankheit, Tod, Rezession, Jobverlust, unerwartete hohe Ausgaben – es kann viele Gründe haben, warum Familien in die Armut abrutschen und Kinder hungrig ins Bett gehen müssen. In vielen Ländern kennen zahlreiche Menschen es aber gar nicht anders. Nämlich dann, wenn sie in die Armut hineingeboren werden.
Bernhard Drumel, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation CONCORDIA Sozialprojekte, sprach mit dem KURIER über Generationenarmut in Europa und warum Regierungen dazu beitragen, statt sie zu bekämpfen.
KURIER: Wie groß ist die Generationenarmut in Europa?
Bernhard Drumel: Die Generationenarmut ist leider noch größer, als es in einem reichen Kontinent wie Europa eigentlich der Fall sein dürfte. Generationenarmut bedeutet: Ein Kind wird in die Welt geboren und hat eigentlich keine Chance, aus einem Teufelskreis aus Armut, Bildungsferne, materieller Not und oft auch Ausgrenzung herauszukommen. Das ist ein Ausmaß an Elend, das sich vor allem in Osteuropa noch findet – und unterscheidet sich von der Kinderarmut, die es etwa auch in Österreich gibt.
In Ländern wie Bulgarien und Rumänien sind vor allem die Minderheiten betroffen, besonders die Roma, die zum Teil wirklich in Parallelgesellschaften leben. In Sofia zum Beispiel gibt es die Mahalas, abgegrenzte Slums mit zehntausenden Bewohnern. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man durch das restliche Sofia geht.
Den Kindern in diesen Communities werden kaum Chancen gegeben, sich in die Hauptgesellschaft zu integrieren. Das gibt es in einer anderen Form auch im Kosovo. Und in Moldau ist es die starke Arbeitsmigration nach Europa, die viele Kinder und Ältere auf dem Land in Armut zurücklässt.
Was hat das mit den Regierungen der jeweiligen Länder zu tun?
Man kann nicht sagen, dass die Staaten nichts tun. In Rumänien müsste man mehr ins Bildungssystem investieren – mehr als 44 Prozent der Kinder, die die Schule abschließen, sind dort derzeit dysfunktionale Analphabeten.
In Moldau bräuchte es mehr Möglichkeiten, nach der Schule in den Arbeitsmarkt zu kommen, damit junge Menschen nicht sofort wegziehen müssen. Im Kosovo fehlen noch essenzielle staatliche Grundstrukturen, etwa ein Pflegeelternsystem für Kinder ohne Familien bzw. mit Gewalterfahrungen. Und in Bulgarien muss man mehr für soziale Integration tun.
Erst kürzlich wurde in Sofia wieder ein illegales, aber seit über 20 Jahren bestehendes Roma-Viertel mit zwei Tagen Ankündigung abgerissen. Diese Maßnahmen hängen mit Stereotypen zusammen, wonach die Roma sich nicht integrieren wollten und faul seien – das stimmt nicht. Vor allem dann nicht, wenn man auf die Kinder schaut, denn jedes Kind hat Lust, sich zu entwickeln.
Was bedeutet es langfristig für ein Kind, in Armut aufzuwachsen?
Es kann seine Flügel nicht aufspannen. Jedes dieser Kinder trägt viel ungenutztes Potenzial und Talente in sich. Es kommt zu Traumatisierungen, Gewalterfahrungen, ständiger Stigmatisierung. Einige ziehen sich zurück, weil sie immer wieder hören, sie würden zu einer niedrigeren Klasse gehören.
Sie können nicht an der Hauptgesellschaft teilnehmen, auch wenn sie mündige Bürger sind. Die Auswirkung kann eine Opferhaltung sein, aber auch Drogen oder Kriminalität.
Wie können NGOs hier nachhaltig entgegenwirken?
Concordia wurde gegründet, als der Kommunismus zusammengebrochen ist und Kinder auf der Straße gelandet sind. Ein Pater hat sie damals am Bukarester Bahnhof in den Kanälen gesehen, völlig verwahrlost, und aufgesammelt. So sind unsere Kinderheime entstanden. In den letzten zwanzig Jahren haben wir unsere Betreuung auf Tageszentren umgestellt für Kinder, die weiter bei ihren Familien leben.
Denn es ist klar geworden, dass in vielen Fällen selbst ein dysfunktionaler Link zur Familie für ein Kind besser ist als keiner. Die Kinder kommen jetzt vor und nach der Schule zu uns. Sie bekommen Essen, werden von Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern betreut. So können Traumata, der Bildungsweg und Probleme in der Familie beobachtet und angegangen werden.
Wie sensibel muss man bei solchen Programmen in der Kommunikation mit den Eltern vorgehen?
Wir beobachten sehr oft Scham, wenn es darum geht, in der Hauptgesellschaft einen Job zu finden. Da gibt es immer wieder Vorfälle, dass die Jugendlichen von sich aus nicht sagen wollen, dass sie aus der Roma-Community kommen. Das führt langfristig dann oft zu Lebenskrisen.
Die noch größere Herausforderung ist Vertrauen. Wenn wir irgendwo neu mit Projekten beginnen, dauert es mindestens ein Jahr, bis das aufgebaut ist. Mancherorts gibt es auch heftige Vorurteile gegenüber NGOs. In Bulgarien etwa wurde lange das Gerücht gestreut, wir würden den Familien die Kinder wegnehmen und zur Adoption nach Norwegen bringen.
Woher kommt dieses Misstrauen?
Vielleicht von schlechten Erfahrungen, die die Menschen mit Organisationen aus dem Ausland gemacht haben und weil einige viel versprechen und dann plötzlich wieder aufhören. Aber es hat sicher auch mit Fehlverhalten von staatlichen Institutionen zu tun. In Sofia etwa hat die Polizei während der Corona-Pandemie die Elendsviertel abgegrenzt, die Bewohner konnten nicht mehr raus. Geholfen hat sie ihnen aber nicht.
Solche Umstände können zu einem Misstrauen gegenüber „all dem da draußen“ führen. Die Betroffenen sind dann übrigens auch jene, die dann oft von den von Haus zu Haus gehenden Populisten abgeholt werden. Aber wir bleiben dran, mit täglichen Kontakten kommt das Vertrauen und damit können wir vielen Kindern und Jugendlichen helfen, den Teufelskreis der Armut zu verlassen. Und das macht auch ein bisschen stolz.
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