Klimawandel lässt Meeresspiegel steigen: Ein Dorf geht unter
Lautes Rattern durchdringt die Stille. Mühselig schiebt der 84-jährige George Golding den Rasenmäher über die Wiese vor seinem Bungalow im walisischen Fairbourne. Ein paar Meter weiter glitzert die Irische See. Im Hintergrund erhebt sich das massive Gebirge Snowdonias. Die Luft flimmert in der Mittagssonne und auf der Stirn des 84-Jährigen haben sich Schweißtropfen gebildet. Aber vom Mähen kann ihn das nicht abbringen. Der kleine Garten ist sein Stolz. Und das obwohl er weiß, dass in spätestens 33 Jahren, vielleicht schon viel früher, nichts davon übrig sein wird.
Während im 300 Kilometer entfernten Cornwall die Weltspitze dieses Wochenende beim G7-Gipfel über Maßnahmen zur Rettung der Zukunft diskutiert, kommt für diese britische Gemeinde jegliche Hilfe zu spät. Fairbourne im Norden von Wales wird wohl als erster Küstenort im Vereinigten Königreich dem Klimawandel zum Opfer fallen. Vor sieben Jahren hat die zuständige Verwaltung Gwynedd Council verkündet, das 700-Seelen-Dorf noch maximal bis 2054 vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen. Aktuellen Plänen zufolge soll die Stilllegung bereits bis 2045 abgeschlossen sein. Aufgrund seiner speziellen Lage könne Fairbourne „nur mehr kurz- und mittelfristig gehalten werden“, argumentiert Gwynedd Council.
Absiedelung
Klimaforscher und Universitätsprofessor Gerd Masselink (siehe unten) bestätigt eine besondere Situation: „Fairbourne droht Überschwemmung nicht nur vom Meer, sondern auch von zwei Flüssen. Und es liegt auf einer Sandbank. Durch den steigenden Meeresspiegel wird das vordere Ende abgetragen und hinten aufgetürmt.“ Über kurz oder lang würden, salopp gesprochen, die Häuser Fairbournes auch im Sand untergehen. Davor soll die Bevölkerung abgesiedelt und auf umliegende Städte aufgeteilt, die Häuser, die Straßen, die Lichtmasten und die Elektrik abgetragen werden.
Eine bis dato einzigartige Entscheidung. Wie geht man als Bewohner damit um? Beim Erreichen des Ortskerns deutet auf den ersten Blick nichts auf das bevorstehende Ende der Gemeinschaft hin: Die kleine Schmalspur-Dampflok verlässt unter euphorischem Winken der Passanten den Bahnhof. Vor der Bäckerei hat sich eine Schlange hungriger Gäste gebildet. Es riecht nach Meersalz, Sonnencreme und Frittierfett. In der Hauptstraße ein paar Meter weiter ragt dann doch das erste Mahnmal empor. Das große, weiß getünchte Hotel-Restaurant an der Hauptstraße ist ausgehöhlt, der Parkplatz mit den Elektrozapfsäulen daneben verlassen. „Es lässt sich seit Jahren kein Investor finden“, erzählt ein Passant, der um die Ecke arbeitet. Auch einige Immobilien daneben wirken verfallen.
In seinem Garten wischt sich der 84-jährge George Golding die Schweißtropfen von der Stirn, stützt sich auf seinem Rasenmäher ab, schüttelt den Kopf. Er kann es noch immer nicht wirklich glauben. „Ich bin vor 25 Jahren hierhergezogen, wollte einen ruhigen Lebensabend verbringen“, sagt er. „Jetzt ist es alles andere als entspannend.“
Kennengelernt hat Golding das walisische Dorf wie viele Engländerinnen und Engländer im Urlaub. Unternehmer Sir Arthur McDougall hatte Mitte des 19. Jahrhunderts große Teile der Bucht erworben, Ferienhäuser errichtet und einen Badeort kreiert. Auch die 80-jährige Eurice Callis aus Staffordshire verbringt seit vielen Jahren den Sommer hier. Mit Enkelin Rachel und deren Sohn Joseph sitzt sie auf der Strandpromenade auf einem Bänkchen.
Das Meer kann sie von dort nicht wirklich sehen. Bloß die Schutzmauer davor mit den steinernen Höckern, die Drachenzähne heißen und noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen.
Die zu einem Wall aufgeschütteten Steine davor sind so uneben, dass ältere Personen wie George Golding Schwierigkeiten haben, darüber zu kommen. „Da bin ich ans Meer gezogen und dann kann ich nicht einmal hin“, sagt er und schüttelt schon wieder den Kopf.
Aber der Wall ist notwendig. Im Schnitt liegen die 461 Häuser Fairbournes nur zweieinhalb Meter über dem Meeresspiegel. Die hohen Fluten, die es durchschnittlich zwei Mal im Monat gibt, sind mitunter dreieinhalb Meter hoch. Bei Unwetter steigt der Pegel noch höher.
30 bis 100 Zentimeter wird der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 steigen. Einige Prognosen gehen sogar davon aus, dass durch die Schmelzung der Pole, der Spiegel um 2100 bereits um 2,4 Meter höher sein könnte
Ein Drittel der europäischen Bevölkerung lebt bis zu 50 Kilometer von der Küste entfernt. Diese Orte erwirtschaften 30 Prozent des europäischen Bruttoinlandprodukts
2,5 Meter über dem Meeresspiegel befindet sich das walisische Dörfchen Fairbourne. Bei extremem Wetter kann sich die Flut bereits bis zu 1,5 Meter darüber befinden
16 Prozent der Immobilien in London befinden sich derzeit bereits im Überschwemmungsgebie
Extreme Wetterphänomene, die derzeit einmal alle 100 Jahre vorkommen, werden in 100 Jahren jährlich stattfinden
Doch bei vielen Bewohnerinnen und Bewohner Fairbournes dominiert nicht so sehr die Sorge ob der Klimakatastrophe, als Verärgerung darüber, dass man von der Regierung bloßgestellt werde. Denn Fairbourne sei bei weitem nicht der einzige Ort an der Küste. In den ersten Analysen war von mehr als 50 gefährdeten walisischen Gemeinden die Rede gewesen.
„Ruf ist ruiniert“
Auch andere Küstenorte im Osten und Süden Großbritanniens befinden sich in tiefen Lagen. „Wir sollen als Warnsignal fungieren“, sagt Alan Jones, Besitzer des einzigen Fish-and-Chips-Shops des Dorfes, verärgert. „Dabei haben wir doch kein Problem“, fährt er fort. „Bei den Überschwemmungen trifft es die Nachbardörfer oft schlimmer.“ Dass ein Unwetter 2014 den Schutzwall derart zerstörte, dass er um umgerechnet 1,4 Millionen Euro repariert werden musste, darauf geht er nicht näher ein. Dass die Gemeinde, detaillierte Pläne zur Absiedlung und zum Schutz der Gemeinde ausarbeitet, interessiert ihn nicht. „Das schadet nur“, sagt Jones. „Unser Ruf ist ruiniert.“
Tragisch findet das auch Lynn O“Donnell aus einem höher gelegenen Nachbarort. Sie glaubt zwar an die Prognosen der Regierung, aber auch sie muss einräumen, dass die Veröffentlichung der Pläne negative Folgen hatte: „Die Bewohner können die Häuser hier nicht mehr verkaufen und die Banken geben jenen, die herziehen möchten, keine Kredite mehr.“
Doch Alan Jones glaubt weiter an die Zukunft seines Dorfes. Mit fünf Unternehmern hat er den „Fairbourne Amenities Trust“ gegründet. Gemeinsam wirtschaften sie den Ort auf. Um einen Euro haben sie die öffentlichen Toiletten am Hauptplatz der Gemeinde und werden demnächst die erste barrierefreie Toilette eröffnen. Das nächste Projekt ist auch schon fixiert: „Wir starten ein Crowdfunding für eine Rampe über den Schutzwall.“ Damit Menschen wie George Golding wieder an den Strand können. Denn diesen, ist sich Jones sicher, wird man noch die nächsten 100 Jahre erreichen können.
Beim Forscher nachgefragt
Gerd Masselink ist Professor an der Universität Plymouth und forscht über die Auswirkungen des Klimawandels.
KURIER: Wie sehr wird sich der Meeresspiegel erhöhen?
Gerd Masselink: Wir rechnen damit, dass er in den kommenden 80 Jahren, also bis 2100, zwischen 30 und 100 Zentimeter ansteigen wird.
Sehen Sie uns eher am unteren oder oberen Ende der Prognosen?
Es hängt von unserem Verhalten, unserem -Ausstoß ab. Also ehrlich gesagt, bin ich nicht sehr optimistisch. Und der Meeresspiegel ist nicht das Einzige. Dazu kommen die Stürme. Es braucht oft nur ein paar Zentimeter mehr und schon richten die Unwetter mehr Zerstörung an.
Werden alle Orte und Städte, die unter dem Meeresspiegel liegen, untergehen?
Generell gibt es ja erfolgreiche Schutzmaßnahmen. Abwehranlagen wie Dämme und Dünen oder Pumpanlagen. Oder schwimmende Häuser. Die Niederlande sind hier sehr kreativ, da gibt es ganze schwimmende Vorstädte. Aber all diese Maßnahmen sind natürlich teuer.
Es geht also ums Geld. Ja. London liegt beispielsweise teilweise auch unter dem Meeresspiegel. Aber bei der Millionenstadt stellt sich die Frage nicht, ob man weiter in die Schutzmaßnahmen investieren soll. Bei einem 700-Seelen-Ort wie Fairbourne schon. Im Endeffekt ist der Klimawandel wie Covid.
Wie meinen Sie das?
Er polarisiert, lässt Ungleichheiten wachsen. Das wahre Problem werden nicht die Industrieländer haben. In Bangladesch leben 20 Millionen in gefährdeten Gebieten und da gibt es kein Geld für Schutzmaßnahmen. Die Entwicklungsländer werden überhaupt zu kämpfen haben, es wird zu wenig Nahrung geben und das wird zu Massenmigration führen. Und die wird weitaus dramatischer sein als das, was wir derzeit erleben.
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