Unter normalen Umständen sollten solche Eskalationen dieser sonst bloß noch beim Fußball-Stadtderby Rangers gegen Celtic rituell gepflegten Rivalität zwischen Protestanten und der katholisch-irischen Exil-Community alle Alarmglocken zum Schrillen bringen. Schließlich verheißt das Aufbranden dieses Stellvertreterkonflikts nichts Gutes für die Stabilität des Friedens im benachbarten Nordirland.
Doch die britische Öffentlichkeit ist derzeit viel zu abgelenkt von den turbulenten Ereignissen in Westminster vor der nahenden Brexit-Deadline zu Halloween. Dabei besteht ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den Unruhen in Glasgow, sich reformierenden paramilitärischen Gruppen in Nordirland und einem immer noch drohenden „No Deal“-Szenario.
Boris Johnsons Regierung stellt den im dreimal abgelehnten Austrittsabkommen verankerten „irischen Backstop“, der eine offene irische Grenze garantieren würde, stets als eine von der EU aufgezwungene, unerträgliche Verletzung britischer Souveränität dar. In Nordirland selbst sieht man das anders: Dort gibt es eine solide Mehrheit für den Backstop und die Zollgrenze, die dieser Backstopp schaffen würde: Zwischen der irischen Insel und Großbritannien. Unter pro-irischen Katholiken liegt die Zustimmung zur Backstop-Lösung sogar bei 98 Prozent.
Dahinter stecken aber bei Weitem nicht nur nationalistische, sondern auch sehr pragmatische Motive. Laut dem Report des Think Tanks „The UK in a Changing Europe“ würde ein No-Deal-Brexit Nordirland besonders hart treffen. Die nordirische Wirtschaft würde um neun Prozent schrumpfen und einen von 20 Arbeitsplätzen einbüßen, nicht zuletzt in der von reibungs- und zollfreien Exporten in die Republik Irland abhängigen Viehwirtschaft.
Kein Wunder also, dass in diesem gern vergessenen Außenposten des britischen Rest-Empire der Ruf nach einer Volksabstimmung zur Frage einer irischen Wiedervereinigung lauter wird.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch in Schottland ab, wo der britische Unionismus mit dem Rücktritt der dortigen Tory-Chefin Ruth Davidson seine populärste Fürsprecherin verloren hat. Laut jüngsten Prognosen würden die Konservativen bei den in naher Zukunft zu erwartenden Neuwahlen neun ihrer derzeit 13 schottischen Sitze an die jetzt schon dominante Scottish National Party verlieren.
Nicola Sturgeon, die separatistische Premierministerin der schottischen Regionalregierung, nützte vergangene Woche diesen Rückenwind, um den rechtlichen Prozess zur Abhaltung eines erneuten schottischen Unabhängigkeitsreferendums einzuleiten – bloß fünf Jahre, nachdem die Nationalisten bei ihrem letzten Anlauf eindeutig den Kürzeren zogen. Sturgeons Argument, der Brexit habe die Voraussetzungen entscheidend verändert, ist allerdings stichhaltig: Damals galt ein möglicher Verlust der EU-Mitgliedschaft als eines der schlagendsten Argumente gegen eine Abspaltung Schottlands. Jetzt dagegen erscheint die Unabhängigkeit als schnellste Route zurück in die Europäische Union.
Die Tatsache, dass beim EU-Referendum 2016 knapp zwei Drittel der Schotten mit „Remain“ stimmten, wird im viel beschworenen Narrativ des britischen „Volkswillens“ zur Befreiung von der EU beharrlich ignoriert, und das nicht bloß aus blasierter, englischer Gleichgültigkeit gegenüber den Nachbarn da oben im Norden. Überspitzt formuliert hat der Brexit in seiner insularen Nostalgie etwas ganz Neues hervorgebracht, nämlich eine Art englischen Separatismus. Bei einer Umfrage unter den konservativen Parteimitgliedern gaben knappe zwei Drittel an, dass sie für den EU-Austritt auch den Verlust von Schottland und Nordirland als Teil des UK in Kauf nehmen würden. Für sie spricht Boris Johnson, wenn er auf Brexit zu jedem Preis schwört: „Do or die.“
Phillip Lee, jener abtrünnige konservative Abgeordnete, der am Dienstag im Unterhaus während Johnsons Rede demonstrativ auf den Bänken der Liberaldemokraten Platz nahm, begründete seinen Abschied von den Tories in einem sehr emotionalen Statement. Der Brexit-Prozess habe „diese einst so große Partei in eine enge Fraktion“ verwandelt, die „zunehmend von den Zwillingskrankheiten des Populismus und des englischen Nationalismus befallen“ sei. In der Tat wäre es der Gipfel der Ironie, wenn dieses patriotische Projekt statt der versprochenen Vision eines wiedergeborenen „Empire 2.0“ in dessen finaler Demontage enden sollte: Als Kleinbritannien, reduziert auf seinen englisch-walisischen Rumpf.
Robert Rotifer
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