Kaminer über Putin: "Der Präsident stapelt Lügen"
KURIER: Herr Kaminer, würden Sie Russland als ihre Heimat bezeichnen? Ihr „Mütterchen“?
Wladimir Kaminer: Meine Heimat ist die Sowjetunion. Ich bin 1990 von Moskau nach Berlin gereist. Damals stand die Sowjetunion eigentlich relativ fest auf den Beinen. Es war nur das erste Mal möglich, raus zu kommen und die Welt zu entdecken. Aber mit dem Gedanken, dass es die Sowjetunion sehr bald nicht mehr geben wird, habe ich damals nicht gespielt.
Sie sehen sich also weniger als Russe, denn als Sowjetbürger?
Als Russe, als sowjetischer Bürger, in Deutschland habe ich 15 Jahre mit einem „Alienpass“, einem Fremdenpass, gelebt. Wir haben damit angegeben; „Wir sind die Aliens, uns geht das alles nichts an“ und so. In meinem relativ kurzen Leben sind schon so viele Staaten untergegangen und so viele neue entstanden, dass jeder Mensch schon mehrere Leben hat und sich als was auch immer bezeichnen kann. Meine Nachbarn, die Ostdeutschen, wurden auch nach der Wende gezwungen, etwas völlig Neues anzufangen: Stasi-Offiziere, die dann Steuerberater wurden.
Russland, Ukraine – das ist immer die Rede von Brudervölkern. Wie würden Sie diese Bruderschaft beschreiben?
Ich bin in der Sowjetunion sozialisiert worden. Für mich sind diese Menschen ein Volk. Ich glaube, dass die beiden Seiten mich dafür umbringen werden. Aber das ist ein Volk. Ein sowjetisches Volk. Aber ein Teil dieses Volkes hat sich für eine europäische Entwicklung entschieden und ein anderer Teil ist in den Träumen und Wünschen verblieben, die nicht realisierbar sind – politisch, wirtschaftlich.
In der Sowjetunion?
Heute, im heutigen Russland. Im heutigen Russland besteht der Traum von einem großen Reich. Dieses große Eurasien. Das ist Wunschdenken. Es gibt keinen Rückwärtsgang in der Geschichte. Es wird keine Sowjetunion geben, mit oder ohne Kommunisten. Und diese Wirtschaftsunion, die Putin gegründet hat: Er spricht darüber wie ein alter KGB-Offizier - mit den Kollegen in Kasachstan etwa. Da sagte er, was für ein großartiger toller Mann der dortige Präsident sei, dass er es geschafft hat, aus Kasachstan einen richtigen Staat zu machen, „weil Kasachstan war ja an sich nie ein Staat, das war ja nur ein Teil von uns“. Der gelobte Präsident dieses Staates hat da freilich gleich gesagt: "Wir treten jetzt aus." Mit Weißrussland, Lukaschenko, hat er genauso angefangen. Lukaschenko hat dann gemeint, wir werden um jedes Haus kämpfen. In jedem Dorf, werden unsere Jungs mit Faustpatronen sitzen.
Aber was steckt hinter diesem Größenwahn?
Dieser Konflikt hat angefangen mit einer Nichtigkeit. Er hat angefangen mit drei Mädchen, die in einer Kirche gesungen haben. Mit Pussy Riot. Mit einem Lied so in der Art: „Heilige Mutter rette uns vor diesem Präsidenten, schicke uns einen anderen“. Das war ein Kinderstreich. Und ein mächtiges Land mit Atomwaffen springt wie eine verrückte Ziege nach links und nach rechts, lässt die Mädels im Knast schmoren, macht eine Propagandakampagne sondergleichen und die Welt wundert sich, sagt „hallo, seid ihr noch bei Sinnen?“ Das war das erste Mal, wo die russische Führung mitbekommen hat: Eigentlich können wir tun, was wir wollen. Wir sind auf die Welt gar nicht angewiesen. Wir lassen die Mädels im Knast, mal sehen was passiert. Und seither gehen sie diesen falschen Weg immer tiefer in den Wald. Inzwischen wird scharf geschossen, die Leichen kommen zu Hunderten und werden nicht einmal als Gefallene anerkannt, die Familien bekommen die Renten nicht. Der Präsident stapelt Lügen zu einem riesigen Haufen, wo niemand mehr mit ihm ernsthaft spricht. Und wenn er ertappt wird, dass er gestern genau das Gegenteil erzählt hatte als heute, sagt er: Das gehört zum politischen Geschäft. Also das ständig dem Westen vorgehalten wird: „Und ihr? Seid ihr jetzt immer ehrlich mit euren Bürgern, was war mit Kosovo, was war mit Jugoslawien, was war mit Irak und Afghanistan?“ Also, wenn die anderen Schurken sind, müssen wir auch Schurken werden? Das ist doch eine komische Aussage. Macht es besser. Sei nicht wie die Amerikaner, du hältst sie doch für einen Feind, wieso machst du ihnen dann alles nach?
Geht es da um Gefühle oder politisches Kalkül?
Also ich habe gehofft, dass es um politisches Kalkül geht, weil selbst in einem totalitären Staat kann die Politik nicht von einer Hand gemacht werden. Jeder Politiker hat doch Experten. Man geht davon aus, dass alles irgendwie durchgerechnet ist. Aber am russischen Beispiel sehen wir, dass das anscheinend nicht der Fall ist. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Experten, egal welche, solche gravierenden Fehler machen können, wie die, die in der russischen Politik dieses Jahres gemacht worden sind. Anscheinend hat er doch keine Experten. Und keine Opposition freilich. In einem normalen Staat erfährt man von der Opposition von den eigenen Fehlern. In einer Machtvertikale aber hast du nur Freunde als Experten und Berater, die dich nur loben, ganz egal, was du sagst. Aber die beginnen jetzt schon den Kampf um den Nachfolger, der 2015 kommen muss, weil die Welt mit diesem Präsidenten nicht reden will. Weil selbst Koalas sind vor ihm weggelaufen, sagt man – bei G20 in Australien.
Ein Begriff, der sehr oft fällt in diesem Konflikt: Der des Faschisten. Was ist ein Faschist?
Ein Faschist ist ein ideales Feindbild. Weil alle anderen sind begrenzt. Egal welches man nimmt: Seien es Juden für die Antisemiten - aber eben nur für Antisemiten; seien es Kapitalisten, also die mit Zylinder und Zigarre, die Ausbeuter - auch ein Feindbild, aber eben nur für die Linken. Man findet kaum ein vereinendes Feindbild mehr. Und Faschist ist zumindest für die Russen ein 100prozentig treffendes Feindbild. Wer wirklich ein Faschist ist, spielt dabei keine Rolle. Das ist einfach ein Schimpfwort. Wir haben als Kinder Kriegsspiele gespielt, es ging um Rotarmisten gegen Faschisten. Die einen waren die Guten, die anderen die Schlechten. Niemand wollte Faschist werden. Wir mussten immer ziehen, wer Faschist wird, und dann zusammengeschlagen wurde. Das war diese coole Idee: Viele Menschen haben nichts zu tun in Russland, die fühlen sich ausgeschlossen. Und natürlich, ein Krieg wäre schon ein Betätigungsfeld für sie. Man muss nur den richtigen Feind finden. Und so kamen die ukrainischen Faschisten zustande. Das Problem waren natürlich diese Wahlen, wo die Faschisten nicht durchgekommen sind. Da stellt sich nun freilich die Frage, wo die Faschisten sind? Und jetzt stellen sie fest, dass die ganze Welt Faschisten sind, weil der russische Präsident in Australien verschmäht wurde. Sie haben freilich alle gegrinst und seine Hand geschüttelt, aber sie hatten alle, wie meine Tochter so sagt, ein „fick dich“ in der Tasche. Also sind jetzt die ganze Welt Faschisten. Ja dumm, aber manchmal passiert auch mal sowas.
Welche Assoziationen weckt bei ihnen der Begriff Neurussland?
Das ist wie ein Loch, wo alle verschwinden. Wie ein schwarzes Loch. Mir hat ein Freund von der russischen Antifa erzählt, sie sind Putin tausend mal dankbar, weil sie haben gegen die Nazis in Russland getan und getan, aber sie kriegten sie nicht raus. Aber jetzt plötzlich folgten sie alle dem Aufruf für ein neues Russland, für ein reinrassiges Russland in der Ukraine. Sie sind alle hingegangen mit Waffen, sind alle tot – nie gab es so wenige Nazis in Moskau. Im Grunde ist dieser Putin so eine Art Beschleuniger. Alle diese Menschen hätten noch länger in ihren Ecken sitzen und ihre radikalen Ideen ausplaudern können und er hat sie mobilisiert. Er will also jedem zeigen, wie scheiße er ist. Für nichts sind diese Menschen tauglich. Das spricht für die große Enttäuschung, die dieser ehemalige KGB-Offizier für die Menschheit empfindet. Er ist so eine Art Antimidas. Alles was er anfasst, wird Scheiße. Ganz egal, welche Idee oder welches Projekt. Am Ende kommt nur Scheiße raus.
Aber am Ende ist er doch auch recht erfolgreich damit?
Wie?
Die Umfragewerte stimmen.
Also das russische Volk ist sehr gut mit Umfragen, es wird die Soziologie noch zu grabe tragen. Alle diese Antworten bedeuten im Grunde nichts anderes als „leck mich“.
Gibt es so etwas wie eine kritische Masse in Russland?
Die gibt es, die Menschen hassen diesen Staat.
Aber was kann sie bewegen?
Leere Lebensmittelregale. Wenn sie in ihrem Privaten bedrängt werden. Und das Private ist Essen, Trinken, Wärme.
Sanktionen: Sie haben sich einmal sehr klar gegen Sanktionen ausgesprochen – wie stehen sie heute dazu?
Ich hab mir diese Sanktionen noch einmal genau angeschaut. Das sind keine Sanktionen gegen Russland und das russische Volk. Das sind Sanktionen gegen den Präsidenten. Die Welt will mit ihm nicht mehr reden, sie fühlen sich verarscht von ihm. Das ist wie eine Medizin. Ich glaube verstärken muss man da nichts. Das Land hat es geschluckt, man muss nur warten. Das ist wie... wie Verstopfung. Wie ein Mittel gegen Verstopfung. Das wirkt nicht gleich. Dieses Land hat jetzt ein gutes Stück, das raus muss. Es dauert eine Weile, aber ich glaube bis März, April wird das.
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