Justiz als erstes Putsch-Opfer in der Türkei

Erdoğan gibt sich martialisch als Retter der Nation
Ein Jahr nach dem Umsturzversuch: Ein Drittel des Personals entlassen, System krankt.

Justitia in der Türkei ist nicht nur auf einem Auge blind, wie Kritiker meinen – sie hat in Wahrheit nur noch eines. Denn nach den Massenentlassungen infolge des Putschversuches (genau heute vor einem Jahr) sei das ganze System kaum noch funktionsfähig. "Die Justiz ist komplett zusammengebrochen", sagt die Schriftstellerin Asli Erdoğan. Sie selbst war nach den Juli-Ereignissen 2016 mehrere Monate in Haft. "Wir haben jetzt Richter, die erst 25 Jahre alt sind, und der Großen Strafkammer vorstehen", begründet die Autorin ihre Meinung. Tausende qualifizierte Personen zu ersetzen sei eben nicht einfach. Es rückten zwar junge Juristen nach, die das richtige Parteibuch haben, aber keine Berufserfahrung.

4238 Richter und Staatsanwälte fielen nach dem Putschversuch den "Säuberungsaktionen" zum Opfer: Sie wurden entlassen, weil man ihnen eine Nähe zur Gülen-Bewegung unterstellte, die die Regierung wiederum für den versuchten Coup verantwortlich macht. Erst kürzlich hatte Justizminister Bekir Bozdag bekannt gegeben, dass es 14.661 Männer und Frauen in diesen wichtigen Ämtern gebe. Binnen Jahresfrist wurde also jeder dritte Richter und Staatsanwalt entlassen. Einige wurden noch im Gerichtssaal, während sie ihrer Arbeit nachgingen, verhaftet und abgeführt.

Zehntausende Fälle

Derselbe Justizminister erklärte übrigens vor gut einer Woche, dass aufgrund des Putschversuchs 168.801 Personen "juristisch erfasst" worden seien: Das bedeutet, dass gegen sie ermittelt wurde oder wird, dass einige verhaftet wurden und dann entweder freigelassen oder in Untersuchungshaft überstellt wurden. Das sind alles Personen, gegen die zusätzlich zu den "gewöhnlichen" Kriminellen und den "üblichen Verdächtigen aus dem politischen Spektrum" ermittelt wird, nämlich Leute, die offiziell mit dem Putschversuch in Verbindung gebracht werden.

Das türkische Justizsystem ist somit einer Doppelbelastung ausgesetzt, die Spuren hinterlässt: Viel mehr Fälle bei zu wenigem Fachpersonal, das noch dazu kaum Erfahrung hat. Zu leiden hat unter diesen Umständen besonders die politische Opposition.

Weil ein Jahr nach dem Putschversuch noch immer der Ausnahmezustand herrscht, der nun abermals verlängert werden soll, können Verdächtige sogar länger als fünf Jahre ohne Anklageschrift in Untersuchungshaft gehalten werden. Für viele weitet sich diese Haft bereits zur Strafe aus.

"Unterschwellige Botschaften"

Auch für den Ex-Chefredakteur und Schriftsteller Ahmet Altan. Er und sein Bruder wurden nach dem Putsch verhaftet, weil sie den Militäraufstand durch das Versenden von "unterschwelligen Botschaften", übermittelt angeblich über eine Fernsehsendung, ausgelöst haben sollen. Aber die Altan-Brüder haben im Gegensatz zu vielen Leidensgenossen Glück im Unglück: Ihre Anklageschrift liegt nach nur einem knappen Jahr U-Haft mittlerweile vor. Aber: Für lebenslänglich Zuchthaus, das Altan droht, hätte sich der Autor zumindest gewünscht, dass die Vorwürfe nicht nur juristisch einwandfrei, sondern auch grammatikalisch sauber formuliert sind.

Ebenfalls neu ist, dass viele Angeklagte gar nicht mehr die Möglichkeit haben, ihrer Verhandlung persönlich beizuwohnen. Auch das betrifft in erster Linie politische Häftlinge, wie beispielsweise den kurdischen Oppositionschef Selahattin Demirtas und weitere Abgeordnete. Sie werden per Videoübertragung aus der Haftanstalt zugeschaltet. Weil sie für fast jede gehaltene Rede einzeln angeklagt sind, ist es wohl schlicht unmöglich, sie jeweils aus der Haftanstalt zum entsprechenden Gericht zu bringen.

Schlechtere Ausbildung

Da aufgrund von Massenentlassungen an den Universitäten mittlerweile auch die Qualität der juristischen Ausbildung enorm gelitten hat, scheint es nicht wahrscheinlich, dass sich in absehbarer Zukunft etwas ändern wird. Mangelnde Ausbildung und fehlende Richter werden in Zukunft wohl auch Auswirkungen im Wirtschafts- und Zivilrecht haben. Asli Erdoğan dazu: "Ich fürchte, diesen Luxus kann sich das Land aber nicht leisten."

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