Mit Polizei und Justiz will Erdoğan der Opposition Garaus machen

Überrascht waren wohl die wenigsten Oppositionspolitiker von der Polizeiblockade der CHP-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Sariyer. Seit Monaten gibt es Berichte von Amtsträgern der CHP, die in ihren Büros schlafen statt zu Hause – aus Angst, am nächsten Tag von der Polizei am Einlass gehindert und durch einen regierungsnahen Vertreter ersetzt zu werden. Bilder zeigten am Montag Hunderte Demonstrierende, die sich um die Polizisten versammelten; CHP-Politiker, die mit verschränkten Armen und aufrechter Brust für Einlass einstanden. Auch zu Ausschreitungen und dem Einsatz von Tränengas soll es gekommen sein.

Polizeiblockade der CHP-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Sariyer.
Özel droht Absetzung
Grund für die Polizeiblockade: Vergangene Woche hat ein türkisches Gericht den Chef der CHP Istanbul wegen Bestechungsvorwürfen seines Amtes enthoben; ein von Gericht bestellter Zwangsverwalter hätte im Laufe des Montags seine Arbeit aufnehmen sollen. Ähnliches haben seit der Absetzung und Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu Mitte März Dutzende CHP-Kleinstadtbürgermeister erlebt. Und könnte Gerüchten zufolge auch dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel, dem aktuell mächtigsten Mann in der CHP, drohen, indem seine Wahl beim Parteitag 2023 wegen vermeintlicher Unregelmäßigkeiten für ungültig erklärt würde. Das Gerichtsverfahren ist für nächsten Montag, 15. September, angesetzt.
Es ist der Versuch von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die größte Oppositionspartei der Türkei auf juristischem, jedoch verfassungswidrigem Wege zu entmachten. Für Wahlen ist die Oberste Wahlkommission zuständig. Die hat die fraglichen Wahlen jedoch genehmigt, und die Fristen für Einsprüche sind abgelaufen. Der türkische Innenminister warf der CHP vor, "Gerichtsurteile zu ignorieren" und "durch Aufrufe öffentliche Ausschreitungen" zu provozieren. Bis Mittwoch wurde ein Demonstrationsverbot in mehreren Bezirken der Stadt verhängt. Der APA zufolge wurde der Zugang zu zahlreichen Online-Plattformen in der Türkei eingeschränkt.

Der aktuelle CHP-Vorsitzende Özgür Özel.
Neuer Prozess gegen İmamoğlu
Während İmamoğlu wegen zahlreicher Verfahren seit Monaten im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri sitzt, haben seine Anhänger weiter demonstriert – auch ohne Aufmerksamkeit der westlichen Medien. Zwar riss die Intensität der Proteste über den Sommer ab, doch selbst im traditioneller geprägten Osten des Landes, etwa in der Erdoğan-Hochburg Yozgat, wurde mit Traktoren gegen das Vorgehen der Regierung demonstriert.
Gegen İmamoğlu beginnt am Donnerstag ein weiterer Prozess, in dem ihm die Fälschung eines Universitätsdiploms vorgeworfen wird. Laut Medienberichten droht ihm bei Aberkennung seines Studiums eine Verlängerung der Haftstrafe auf zehn Jahre sowie eine Politiksperre.

Demo für die Freilassung İmamoğlus.
Rückkehr des Wahlverlierers
Umfragen sehen İmamoğlu deutlich vor Erdoğan, die CHP hält trotz seiner Haft an ihm als Präsidentschaftskandidat für 2028 fest. Doch auch Özel, der dem Umfeld İmamoğlus zugeordnet werden kann, hat während der Proteste an Beliebtheit dazugewonnen – und ist deswegen in den Augen des türkischen Präsidenten gefährlicher geworden. Noch vor wenigen Woche hatte Özel gegenüber Medien erklärt, er sei bereit, mit der nationalistischen Kleinpartei MHP, die Erdoğans Regierung unterstützt, am kurdischen Friedensprozess zusammenzuarbeiten – das wäre ein Meilenstein in der türkischen Politik.
Sollte Özel wirklich abgesetzt werden, so mutmaßen Beobachter, habe der erfolglose CHP-Präsidentschaftskandidat der letzten Wahl, Kemal Kılıçdaroğlu, gute Chancen auf eine Rückkehr; die der CHP auf einen Sieg bei demokratischen Wahlen könnten jedoch drastisch sinken: Kılıçdaroğlu gehört einem anderen Lager an als İmamoğlu und Özel, gilt in seiner Partei als unbeliebt. Die CHP in ihrem bisher wichtigsten Überlebenskampf zu einen, dürfte ihm kaum gelingen.
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