Die ehemaligen Spitzenpolitiker Ehud Olmert und Nasser al-Kidwa sehen im bevorstehenden Geiseldeal kein Ende des Krieges. Sie sagen: Eine Zweistaatenlösung ist der einzige Weg für langfristigen Frieden.
Als US-Außenminister Anthony Blinken am Dienstag vor die Presse trat, schwang in seinen Worten Hoffnung mit. Hoffnung, dass sich Israel und die Hamas in dieser Woche auf einen neuen Geiseldeal und eine Waffenruhe einigen können; dass dieses Abkommen der erste Schritt auf dem Weg zu einem langfristigen Frieden in Nahost sein wird.
Ehud Olmert und Nasser al-Kidwa fehlt diese Hoffnung. Die beiden ehemaligen Spitzenpolitiker – der eine war israelischer Ministerpräsident, der andere Außenminister Palästinas – haben schon vor Monaten einen gemeinsamen Plan für Frieden im Nahen Osten präsentiert.
Der KURIER traf Olmert und al-Kidwa in Wien zum Doppelinterview, wo beide auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN) über ein mögliches Kriegsende sprachen. Ohne eine Zweistaatenlösung, da sind sie sich einig, wird sich dieser Konflikt nicht beenden lassen.
Nasser al-Kidwa (l.) war einst Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde, Ehud Olmert war israelischer Ministerpräsident. Gemeinsam treten die beiden für eine Zweistaatenlösung und einen langfristigen Frieden im Nahen Osten ein.
Ehud Olmert war von 2006 bis 2009 Regierungschef Israels. Schon damals stand er für eine Zweistaatenlösung ein. Verhandlungen mit der Hamas, die 2004 den Gazastreifen übernommen hatte, kamen jedoch nie zustande. Der 79-Jährige ist ein scharfer Kritiker des heutigen israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu.
Nasser al-Kidwa vertrat Palästina 14 Jahre lang als UNO-Botschafter, 2005 wurde er für ein Jahr Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde (PLA). Er ist ein Neffe des PLA-Gründers Jassir Arafat und kam in Gaza-Stadt zur Welt.
Der Friedensplan Beide Männer haben eine Zweistaatenlösung präsentiert: Unter anderem soll der Gazastreifen an eine neue palästinensische Verwaltung übergeben und die Jerusalemer Altstadt unter die Treuhandverwaltung von fünf Staaten gestellt werden.
KURIER:Alle Welt spricht gerade über den bevorstehenden neuen Geiseldeal, der in drei Phasen sogar zu einem länger anhaltenden Frieden führen soll. Stimmt Sie das hoffnungsvoll?
Ehud Olmert: Ich habe gemischte Gefühle. Die Angehörigen der Geiseln hoffen natürlich, dass ihre Liebsten lebend zurückkehren, auch wenn einige wahrscheinlich lange tot sind. Allen anderen muss klar sein, dass es sich wahrscheinlich nur um eine Teilvereinbarung handelt, bei der es wahrscheinlich keine zweite Phase geben wird, bei der die übrigen Geiseln freikommen.
Nasser al-Kidwa: Die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen wird froh sein, zumindest 42 Tage lang Luft zum Atmen zu bekommen – deshalb können wir diesen Deal auch nicht ablehnen, wir müssen ihn unterstützen. Aber er wird nicht das Ende des Weges sein.
Warum glauben Sie das?
Olmert: Es scheint, dass Netanjahu keinen Deal eingehen will, der diesen Krieg beendet. Auch die Hamas will das nicht – sie will nur Zeit, sich zu erholen und ihre Reihen wieder aufzufüllen.
Mit anderen Worten: Dieser Deal ist besser als gar keiner, aber er ist nicht geeignet, alle Geiseln freizubekommen, den Krieg völlig zu beenden und einen Prozess zu beginnen, der es einer neuen palästinensischen Verwaltung ermöglicht, Gaza von der Hamas zu übernehmen.
Aber es ist doch Teil des Abkommens, dass in weiteren Verhandlungen alle Geiseln freikommen sollen.
Olmert: In der ersten Phase sollen nur 33 Geiseln freikommen. Was ist mit den 65, die noch dort sind? Da muss wieder neu verhandelt werden. Schon dieses Abkommen auszuhandeln, hat vom 27. Mai bis heute gedauert, acht Monate! Ich bin nicht sicher, ob dieser Deal wirklich die nächsten Schritte einleitet oder nur eine weitere Pause in diesem Krieg ist. Und das macht mir Angst.
Al-Kidwa: Die Verhandler sagen, dass der Deal sicherstellen wird, dass alle verbliebenen Geiseln freikommen. Aber dafür gibt es keine Garantie. Die politischen Aspekte werden überhaupt nicht berücksichtigt. Solange es keinen konkreten Plan dafür gibt, wie der Gazastreifen nach einem Kriegsende verwaltet werden soll, sehe ich nicht, wie wir wirkliche Fortschritte machen können.
Es gibt doch zumindest den Plan, den Gazastreifen nach Kriegsende interimistisch von der PLO verwalten zu lassen. Später soll eine neue Behörde geschaffen werden und übernehmen. Darin sehen Sie keine Lösung?
Al-Kidwa: Diese Ideen sind noch völlig unausgearbeitet, es gibt keinen konkreten Vorschlag, wie diese neue Behörde aussehen soll. Das ist alles vage. Wir beide schlagen schon lange vor, dass man eine Regierung auf dem Gazastreifen etabliert, die von der PLA geleitet wird.
Damit das gelingt, braucht es aber internationale Sicherheitspräsenz im Gazastreifen, die muss aber erst geschaffen werden. Ohne diese beiden Dinge ist es schwierig, sich ernsthafte Fortschritte vorzustellen.
Nasser al-Kidwa: "Es geht hier nicht um Emotionen, nicht darum, deinen Nachbarn zu lieben. Es geht darum, einen Weg zu finden, wie wir miteinander leben können."
Sie sprechen sich beide seit Monaten für eine Zweistaatenlösung aus und haben einen Plan präsentiert, wie die gestaltet sein könnte. Sehen Sie denn gerade jetzt eine Chance dafür?
Olmert: Wir beide kannten einander bis vor kurzem gar nicht, auch wenn wir voneinander wussten. Aber wir sind überzeugt, dass es keinen passenderen Zeitpunkt geben kann, um in die Zukunft zu blicken. Deshalb haben wir das gemeinsam in die Wege geleitet.
Niemand, wirklich niemand hat auf der israelischen Seite explizit und öffentlich über den „Tag danach“ gesprochen, bis wir kamen. Dabei ist die Zweistaatenlösung, die wir vorschlagen, gar nichts Neues, sie wurde 2008 präsentiert.
Angenommen, wir zerstören die Hamas komplett, so wie Netanjahu es will. Was dann? Es gibt sechs Millionen Palästinenser. Was machen wir mit ihnen? Wollen wir sie für immer besetzen? Dann wird es immer Terror, Blutvergießen und Konflikte geben.
Israels Ex-Premier Ehud Olmert: "Es ist der mächtigsten Nation im Nahen Osten nach 15 Monaten Krieg nicht gelungen, jeden Hamas-Anhänger in Gaza zu eliminieren. Wie soll das dann jemals funktionieren?"
Al-Kidwa: Eine Zweistaatenlösung ist der einzige realistische Weg, den Krieg in Gaza zu beenden, weil sie die Bedingungen und Zwänge auf beiden Seiten berücksichtigt. Andere Varianten können vielleicht kurzfristig für Ruhe sorgen, führen aber langfristig immer dazu, dass der Konflikt wieder aufbricht.
Wir müssen eine Lösung finden, die die Wünsche unserer beiden Völker berücksichtigt – symbolisch dafür steht Jerusalem. Wir sind überzeugt, dass die Stadt immer beiden Völkern offenstehen sollte, auch wenn Ost-Jerusalem laut unserem Plan als Hauptstadt für einen Staat Palästina dienen würde.
Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten das irgendwann auch erkennen wird. Die Lösung muss darin bestehen, den anderen leben zu lassen und nicht weiter töten und zerstören zu wollen.
Sie hoffen also auf öffentlichen Druck – weil Sie bei den handelnden Akteuren keinen ehrlichen Wille für einen Frieden erkennen?
Al-Kidwa: Es ist ganz einfach: Ohne personelle Veränderungen auf israelischer und palästinensischer Seite wird es nicht gehen. Jetzt gibt es vielleicht ein bisschen Bewegung, aber für ernsthafte Lösungen braucht es eine neue Führung auf beiden Seiten. Dazu wird es erst kommen, wenn die Bevölkerung Druck macht.
Olmert: Und die internationale Staatengemeinschaft.
Öffentlichen Druck gibt es ja schon, jede Woche demonstrieren in Tel Aviv tausende Menschen gegen ihre Regierung ...
Al-Kidwa: Dazu gibt es ein passendes Sprichwort: Wir beginnen, den Rauch zu riechen, aber wir sehen das Feuer noch nicht. Bald werden wir es sehen. Und dann werden wir bei den Verantwortlichen eine sofortige Veränderung der politischen Positionen erleben.
Olmert: Wenn die militärischen Auseinandersetzungen endlich aufhören, werden die Menschen sich fragen: Was jetzt? Werden wir diesen Krieg in zwei, drei Jahren wieder führen? Sind wir dazu verdammt, für immer zu kämpfen? Dann werden sie erkennen, dass die einzige mögliche Alternative zur aktuellen Situation ist, dass wir eine gemeinsame Lösung für diesen Konflikt finden.
al-Kidwa: Das ist ganz entscheidend: Es geht hier nicht um Emotionen, nicht darum, deinen Nachbarn zu lieben. Es geht darum, einen Weg zu finden, wie man miteinander leben kann.
Liegt das Problem nicht darin, dass jede neue Eskalation eine neue Generation von Menschen hervorbringt, die Narben davontragen, die Familienmitglieder verloren haben und deshalb nicht bereit sind, Frieden zu schließen?
Al-Kidwa: Absolut, und diese Menschen sind auf Rache aus. Aber wenn sie rational denken, dann werden auch sie sehen, dass es keinen anderen Weg gibt als Frieden: Wir sehen doch jetzt wieder, dass es keiner Seite möglich ist, die andere für immer zu vernichten. Also müssen wir einen Weg finden, zusammenleben.
Olmert: Machen wir es konkret: Der palästinensische Terrorismus hat am 7. Oktober seinen größten Erfolg in der Geschichte dieses Konflikts gefeiert. Und was ist seither geschehen?
Gaza ist fast vollständig zerstört, zehntausende Palästinenser sind tot, Tausende weitere bis heute unter den Trümmern begraben. Es braucht Investitionen von zig Milliarden Dollar und die Zusammenarbeit mehrerer Staaten, um das wieder aufzubauen. Wie kann man angesichts dessen glauben, dass es der Hamas je gelingen wird, Israel zu zerstören?
Das gleiche gilt umgekehrt: Es ist der mächtigsten Nation im Nahen Osten – mit den modernsten Waffen, der fortschrittlichsten Kriegstechnologie und der mächtigsten Luftwaffe – nach 15 Monaten Krieg nicht gelungen, jeden Hamas-Anhänger in Gaza zu eliminieren. Wie soll das dann jemals funktionieren?
Ehud Olmert und Nasser al-Kidwa im Gespräch mit KURIER-Redakteur Johannes Arends.
Blicken wir abschließend auf einen möglichen Wiederaufbau im Gazastreifen: Wie könnte der gelingen, ohne dass Geldgeberstaaten befürchten müssen, damit weiter Terror zu finanzieren?
Olmert: Gaza ist palästinensisches Land. Es ist kein Teil von Israel und sollte das auch nie sein. Wenn also das palästinensische Volk gemeinsam mit arabischen Staaten eine neue Führung etablieren würde, sehe ich eine Chance, dass Gaza sich wieder erholen kann.
Natürlich müssten Israel oder etwaige Vermittler regelmäßig kontrollieren, dass dieses Geld nicht für militärische Zwecke missbraucht wird. Aber wenn man die Menschen, die dort leben, nicht miteinbezieht, wird die Lage nur schlimmer werden.
al-Kidwa: Ich habe keinen Zweifel daran, dass arabische Staaten hier einzahlen würden. Aber es wird eine Herausforderung, das zu koordinieren. Entscheidend ist, dass Israel aufhört, die Grenzen des Gazastreifens militärisch zu kontrollieren. Ohne ein Mindestmaß an Selbstbestimmung für eine mögliche, neue palästinensische Verwaltung wird es nicht gehen.
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