Ist der Krieg in Gaza vielleicht bald vorüber? Immerhin hat Israels Verteidigungsminister einen Plan veröffentlicht, wie nach Ende des Krieges weitergemacht werden soll.
05.01.24, 16:01
von Juri Wegner
Am Donnerstag gab der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant bekannt, wie ein mögliches Leben in Gaza nach dem Sieg Israels gegen die Hamas aussehen könnte. Auslöser der Presseerklärung war vermutlich der Staatsbesuch des US- Staatssekretärs Anthony Blinken, der kurz darauf in Israel stattfand. "Vision for Phase 3" lautet der hochtrabende Titel des Plans, den Gallant der Presse präsentierte, bevor er ihn dem Kriegskabinett von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu vorlegte.
Seine "Vision" beinhalte die Weiterführung des Kriegs bis zur sicheren Rückkehr aller von der Hamas entführten israelischen Geiseln, der Zerschlagung der militärischen Kräfte und politischen Strukturen der Hamas sowie der Beseitigung jeglicher Bedrohung durch Waffengewalt, die von der Hamas ausgehen könnte. Danach, so die Idee, beginne eine neue Phase, in der "die Hamas den Gazastreifen weder kontrolliert noch ein Sicherheitsrisiko für die Israelis darstellt". Die Verwaltung des Gebiets würde dann von bisher noch unbestimmten palästinensischen Akteuren übernommen, wobei Israel sein Recht, innerhalb des Gebiets zu handeln und einzugreifen, beibehalte.
Jedoch, und das ist wahrscheinlich einer der größten Reibungspunkte in Netanjahus Kriegskabinett, dürfe es keine Siedlungspolitik und keine herrschende Präsenz israelischer Bürger in Gaza mehr geben.
Das Kabinett ist sich über das weitere Verfahren nach einem Sieg im Gazastreifen uneinig.
Eine Seite befürwortet unter den beiden rechtsextremen Finanz- und Sicherheitsministern Bezazel Smotrich und Itamar Ben-Gvir den Wiederaufbau israelischer Siedlungen in Gaza, während die andere Seite, zu der Verteidigungsminister Gallant gehört, strikt gegen eine Weiterführung der Siedlungspolitik ist. Am Donnerstagabend sah sich Netanjahu gezwungen, eine Sitzung des Kriegskabinetts zu beenden, nachdem einige Minister andere Teilnehmer, darunter Herzi Halevi, den Generalstabschef der Armee, beleidigt und verbal angegriffen hatten. Ausgangspunkt der Debatte war eine Äußerung Ben-Gvirs, in der er die israelischen Siedler ermutigte, nach Ende des Kriegs nach Gaza zurückzukehren und so die Palästinenser zu verdrängen.
Dies rief international empörte Reaktionen hervor. Vor allem arabische Länder und Israels Hauptverbündete, die USA, kritisierten Israel daraufhin. Zeitpunkt und Inhalt der Presserklärung Gallants überraschten daher nicht, denn die USA hatten der israelischen Regierung zuvor nahegelegt, eine palästinensische Führung nach dem Krieg in Gaza einzusetzen und die Flächenbombardements, die über drei Monate hinweg eine Vielzahl unschuldiger ziviler Opfer forderten, in gezieltere Angriffe gegen Hamas Stützpunkte umzuwandeln.
Nach Angaben der Hamas kosteten Israels Angriffe in Gaza bisher mehr als 22.400 Menschen das Leben, wobei zwei Drittel der Opfer Frauen und Kinder waren. Weitere Zehntausende seien verwundet. Israel hatte angekündigt, die Hamas zu zerstören, nachdem diese am 7. Oktober mehrere Terrorangriffe gegen Israel durchgeführt hatte, bei denen 1.200 Menschen ums Leben kamen und 240 Geiseln verschleppt wurden.
Weiterhin erläuterte Gallant in seinem Dokument die neuen Angriffsstrategien, mit denen er hofft, den Krieg so bald wie möglich zu beenden. Diese beinhalten die Veränderung der Angriffe im nördlichen Teil von Gaza sowie die Weiterführung der Kämpfe im Süden, bis die Hamas geschlagen sei. Im Norden, so Gallant, würde das israelische Militär verstärkt Razzien durchführen, sich auf die Zerstörung der Tunnelsysteme der Hamas konzentrieren, verschiedene Luft- und Bodenangriffe durchführen sowie Spezialoperationen verfolgen. Ziel sei "die Zerschlagung" der verbleibenden Hamas-Präsenz. Ob die Bevölkerung von Nord-Gaza die Erlaubnis habe, in den Teil des Landes zurückzukehren, sei bislang unklar. Fast alle Menschen, die dort gelebt hatten, mussten in den Süden flüchten.
Nachkriegspläne sind wohl Hauptthema bei Besuch Blinkens
Fast das gesamte Wochenende hält Blinken Reden in Israel und anderen Nachbarländern, weshalb davon ausgegangen wird, dass die Nachkriegspläne Israels wohl ebenfalls angesprochen werden. Weiterhin ist es denkbar, dass der US-Staatssekretär Werbung für mehr internationale Hilfe für die Opfer des Gaza-Kriegs machen und versuchen wird, weitere Eskalationen zu verhindern.
Großteil von Palästina in Trümmern
Große Flächen im Norden Gazas, wo vor ca. zwei Monaten die israelische Armee einmarschierte, wurden mittlerweile dem Erdboden gleichgemacht. Knapp 85 Prozent der palästinensischen Bevölkerung musste fliehen und sich in noch kleinere Gebiete drängen. Die israelische Belagerung verursachte eine humanitäre Krise, die zur Folge hatte, dass ein Viertel der Palästinenser hungert, da laut UNO nicht genügend Lebensmittellieferungen in das Land kämen.
Die Veröffentlichung von Gallants "Vision für die dritte Phase" kann also nicht nur als Einlenken gegenüber internationaler Kritik gedeutet werden, sondern auch als eine Art Verteidigungsversuch, da die israelische Regierung von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag angeklagt wurde, Genozid zu verüben. Dass gerade Südafrika Israel angeklagt hat, ist bedeutungsträchtig. Südafrika schaut auf eine knapp hundertjährige Geschichte der Apartheid zurück, in der Rassismus und Ungleichheit wichtige Stützen des Systems waren.
Und auch, dass Israel, das den Internationalen Gerichtshof boykottiert, sich nun bereit erklärt, in den Strafprozess zu ziehen, hebt hervor, wie groß der Druck sein muss, den Tel Aviv aktuell erlebt. Ob der Krieg im Gazastreifen dadurch schneller vorüber geht, wird sich zeigen.
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