"Todesfalle" in Gaza: Netanjahus Krieg gegen die öffentliche Meinung

Ein israelischer Reservist am 2. September 2025 im Süden Israels.
Zigtausende israelische Reservesoldaten drängten sich diese Woche an Sammelpunkten vor dem Gazastreifen zur Vorbereitung der bereits anlaufenden Offensive gegen Gaza-Stadt. Fast eine Million Einwohner Gazas wurden gleichzeitig einmal mehr aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Israels Regierung befahl die Eroberung Gazas, um Druck auf die islamistischen Hamas-Terroristen im Gazastreifen auszuüben. Nicht ohne Wirkung: In der Nacht zum Donnerstag zeigte sich die Hamas zu neuen Zugeständnissen bereit.
So wolle sie weiter über das auf dem Verhandlungstisch liegende Waffenstillstandsabkommen zu sprechen. Es sieht die Freilassung eines Teils der 48 Geiseln in der Hamas-Gefangenschaft vor. Es könne aber auch über die Freilassung aller israelischen Geiseln verhandelt werden. Als Gegenleistung für Israels Abzug und die Beendigung des Krieges.
Opposition und Öffentlichkeit wollen verhandeln
„Leere Worte“ für Israels Premier Benjamin Netanjahu. Weil die Hamas Israels wichtigste Forderungen bislang nicht berücksichtige: ihre Entwaffnung und Entmachtung. Erst dann sei die Macht der Islamisten im Gazastreifen gebrochen. Darum laufen die Vorbereitungen zur Offensive wie geplant weiter. Doch Oppositionssprecher Jair Lapid mahnte: „Das Hamas-Angebot ist verhandelbar. Es zu ignorieren, bringt nicht die Befreiung der Geiseln.“
60.000 Reservisten hat die israelische Regierung für die Offensive gegen Gaza-Stadt einberufen – angeblich die größte Einzelmobilisierung seit Beginn des Krieges. Medien wie Times of Israel bestätigen, dass weniger der Einberufung gefolgt sind als bei den Mobilisierungswellen zuvor. Die Reservisten sollen im Westjordanland und im Norden Gazas reguläre Truppen ersetzen. Die Armee plant, vier Divisionen in Gaza-Stadt zu verlegen.
Die Armee spricht von 12.000 Rekruten, die dringendst benötigt würden. Derzeit gelten 80.000 ultraorthodoxe Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren als wehrdiensttauglich, haben sich jedoch nicht zum Militärdienst gemeldet.

Proteste in Jerusalem gegen Benjamin Netanjahu and Außenminister Gideon Saa.
Denn die ist das vorrangige Ziel der öffentlichen Meinung in Israel, selbst wenn dadurch der Krieg im Gazastreifen gegen die Hamas vorzeitig beendet werden muss. Neu für das kriegsgewohnte Israel: Ein Krieg gegen den Willen der Öffentlichkeit, und auch gegen den Willen der Armee. Armeechef Eyal Samir sieht in der Ausweitung des Krieges mit der Eroberung von Gaza-Stadt „eine Todesfalle“: für die Geiseln, für Soldaten wie auch für unbeteiligte Zivilisten.
Sechs Milliarden für den Krieg
Hinzu kommen ungeheure Kosten: Allein bis Jahresende ist von über sechs Milliarden Euro die Rede für den Krieg, der seit fast zwei Jahren keinen Sieg bringt. Obwohl Netanjahu ihn wiederholt als „greifbar nah“ ankündigte.

Eine Frau weint in Gaza-Stadt um ihr getötetes Kind.
Für die meisten von Israels Reservesoldaten ist es die zweite oder dritte Einberufung seit dem blutigen Massaker-Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem 1200 Israelis niedergemetzelt und über 200 als Geiseln entführt wurden. Damals rannten die Reservisten freiwillig zu den Sammelstellen, ohne den „Befehl 8“ zur Reserveeinberufung abzuwarten.
Kriegsmüdigkeit
Diese Woche kamen etwa 70 Prozent dem Befehl nach. Doch täuscht die Statistik: Wer in Vorgesprächen mit den Kommandeuren glaubhafte Gründe für sein Ausbleiben vorbrachte, dem wurde der „Befehl 8“ erst gar nicht zugeschickt. „Ungefähr die Hälfte unserer Einheit ist doch gekommen“, so Augenzeugen zum Netto des Appells. Denn glaubhafte Gründe haben fast alle: Familie, Karriere, körperliche und seelische Müdigkeit - in den 700 Tagen Krieg waren viele bereits Hunderte Tage an der Front.
Der Armeechef weiß um die Kriegsmüdigkeit. Die Regierung beschuldigt ihn, die Vorbereitungen bewusst langsam anzugehen. „40 Prozent Gazas stehen bereits durch langsames Vorrücken am Stadtrand im Norden und Osten unter Kontrolle der Armee“, enthüllte er abwehrend. Die Kritik der Minister wird ihm noch anhängen, sollte auch die Offensive keinen Sieg bringen. So hofft Samir weiter auf neue Verhandlungen, auf ein Machtwort des US-Präsidenten, was die Offensive überflüssig machen würde.
Rückendeckung von Trump
Doch Donald Trump äußert sich wie gewohnt widersprüchlich. Zum einen befürwortet er die Freilassung der Geiseln und ein Kriegsende. Zum anderen unterstützt er Netanjahu und dessen „entscheidenden Schlag gegen die Hamas“.
„Entscheidungsschlag", so heißt es jetzt. Netanjahu zieht es vor, nicht mehr vom allzu oft leer versprochenen „Sieg“ zu sprechen. Auch nicht von der „Eroberung“ Gazas, sondern von „Einnahme“. So führt er weiter in einen Krieg gegen alle, auch gegen die Öffentlichkeit und die Armee. Als bei heftigen Protesten gegen ihn, auch vor seinem Wohnhaus, Müllcontainer und ein Auto abgefackelt wurden, bezeichnete er die Täter als „faschistische Falangisten“, die ihn „mit dem Tod bedrohten".
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