Wenn Muslime Muslime bekriegen
Ihr Vormarsch im Irak wird von den radikal-sunnitischen Gotteskriegern konsequent und mit Masterplan weitergetrieben. In nur zwei Wochen eroberte die ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) in Kooperation mit den alten Verbündeten des (sunnitischen) Diktators Saddam Hussein weite Teile des Zweistromlandes, darunter die zweitgrößte Stadt Mossul. Am Montag waren bereits zwei Grenzstellen zum Bürgerkriegsland Syrien in ihrer Hand. Auch die strategisch wichtige Stadt Tel Afar samt Flughafen und ein Grenzposten zu Jordanien sind unter ISIS-Kontrolle.
Grenzüberschreitend
In den USA und in Europa läuten sämtliche Alarmglocken, dass die Miliz ihren Gotteskrieg nun auch nach Jordanien tragen könnte. Denn das erklärte Ziel der ISIS ist die Gründung eines grenzübergreifenden sunnitischen Gottesstaates, eines Kalifats, im Irak und in der gesamten Levante. Die bisherigen raschen Erfolge der maximal 15.000 Mann starken ISIS im Irak lassen sich nur mit der Unterstützung sunnitischer Stämme erklären. Und dem Wirken des taktisch gewieften und bestens vernetzten früheren Saddam-Vize, Izzat Ibrahim al Douri.
"Die Situation ist außerordentlich schwierig", ächzte der spanische Außenminister Margallo am Montag. "Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten ist auf ihrem Höhepunkt." Er warnte vor einer Bedrohung, die "die gesamte Region gefährden und dort eine bisher ungesehene humanitäre Krise auslösen kann". Zehn Millionen Syrer und Iraker sind geflüchtet.
US-Außenminister John Kerry führte am Montag Krisengespräche in Jordaniens Hauptstadt Amman und jettete dann weiter nach Bagdad. Sein Ziel: eine neue irakische Einheitsregierung mit Einbindung sunnitischer Politiker. Nach dem Treffen signalisierte Premier Nuri al-Maliki, ein Schiit, erstmals Bereitschaft zu einer Regierungsumbildung. Bis zum 1. Juli soll sie vollzogen sein. Bisher hat sich Al-Maliki aber geweigert, die Sunniten an der Macht zu beteiligen.
Mit fatalen Folgen: Viele sunnitische Stammesführer unterstützen ihre – wenn auch extremistischen – sunnitischen Glaubensbrüder der ISIS. "Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie die Kontrolle über Mossul übernommen haben", sagte Um Mohammed (35), Lehrerin aus Mossul, der Nachrichtenagentur AFP. "Für mich sind sie Rebellen, keine Bewaffneten, und ich denke, sie werden die Stadt verbessern."
Im multiethnischen und multireligiösen Mossul hat die ISIS sofort nach ihrer Machtergreifung einen 16-Punkte-Katalog aufgestellt. Vieles, was bisher erlaubt oder geduldet war, wurde verboten. Darunter fallen Alkohol, Drogen und sogar das Rauchen. Frauen haben sich züchtig zu bekleiden und zu Hause zu bleiben. Die Meinungs- und Redefreiheit wurde gleich kassiert. In Moscheen darf nur verkündet werden, was die Zensur passiert hat. "Nachbarschaftsvertreter" bespitzeln alle und jeden. Denkmäler sind entfernt, eine Marienstatue vor einer Kirche zerstört worden. Und eine Moschee wurde als zentrale Anlaufstelle für "reuige Abtrünnige" auserwählt: Hier sollen Schiiten sich von ihrem Glauben lossagen.
Führungsanspruch
Denn die tiefste Wurzel des Krieges im Irak ist die Spaltung des Islam im Jahr 632 (siehe links). Der aktuelle Religionskrieg ist Experten zufolge eine der vielen Folgen der Gründung der Islamischen Republik Iran 1979 und dem Führungsanspruch der Schiiten durch Ayatollah Khomeini. Dem stellte – und stellt – sich der sunnitische König von Saud, der "Hüter der beiden Heiligen Stätten" (Mekka und Medina) entgegen. Seitdem erlebt die Region viele Stellvertreterkriege.
US-Außenminister John Kerry ist am Vormittag überraschend zu einem Besuch in der irakischen Hauptstadt Bagdad eingetroffen. Nach gemeinsamen Gespräch hat der schiitische Regierungschef Nuri al-Maliki nun seine Absicht, bis zum 1. Juli seine Regierung umzubilden, bekräftigt. Das gab Kerry nach den Beratungen am Montag bekannt und hielt fest, dass Washington auf eine Regierung, die die Interessen aller Iraker vertrete, poche. Kerry betonte weiter, dass die Unterstützung der USA für den Irak und seine Sicherheitskräfte "intensiv und nachhaltig" sein werde, um den Vormarsch der jihadistischen Gruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIS) zu stoppen.
Al-Maliki steht seit langem in der Kritik, weil seine von Schiiten dominierte Regierung die Sunniten im Irak diskriminiert. Nach dem Vormarsch der sunnitischen Islamistenmiliz ISIS im Norden und Westen des Landes steigt im In-und Ausland der Druck auf den schiitischen Ministerpräsidenten, sein Amt aufzugeben.
Kerry hatte vor seiner Ankunft in Bagdad Ägypten und Jordanien besucht. In Kairo verwies er auf die Unzufriedenheit der Sunniten, Kurden und auch einiger Schiiten mit der Regierung Al-Malikis. Zur Lösung der Krise müssten konfessionelle Interessen in den Hintergrund rücken, mahnte Kerry. Die USA hatten angekündigt, das irakische Militär im Kampf gegen die Terrormiliz zu unterstützen. Washington setzt dabei unter anderem auf einen möglichst kurzen Einsatz von rund 300 Soldaten, die als Militärberater in den Irak geschickt werden sollen.
Treffen in Brüssel
Nach Angaben des State Departments reist der US-Außenminister anschließend nach Europa weiter, wo er unter anderem in Brüssel am Treffen der NATO-Außenminister am Dienstagabend und Mittwoch teilnimmt.
Die Außenminister der 28 EU-Staaten wollen am Montag in Luxemburg die Gewalt der Islamisten verurteilen und eine Regierung fordern, in der Sunniten und Schiiten gleichermaßen vertreten sind.
Glaubenskrieg
Die ISIS-Miliz hat am Wochenende mehrere Orte im Westirak eingenommen und ihre Machtposition dort ausgebaut. Das benachbarte Jordanien mobilisiert nach dem Vorrücken der Kämpfer der sunnitischen Gruppe Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS) die Streitkräfte an seiner Grenze. Das Königreich hat Dutzende Verbände entlang der Grenze aufgeboten, verlautete aus Militärkreisen in Amman. Berichten zufolge sollen ISIS-Kämpfer die Stadt Rutba auf der Straße von Bagdad nach Amman und einen strategisch wichtigen Grenzübergang nach Jordanien eingenommen haben.
Die Feindschaft zwischen den muslimischen Glaubensrichtungen der Sunniten und Schiiten hat im Irak eine lange Tradition. Ex-Diktator Saddam Hussein, ein Sunnit, hatte die schiitische Mehrheit im Land diskriminiert. Nach seinem Sturz 2003 verloren die sunnitischen Stämme Macht und Einfluss. Nach dem US-Abzug 2011 entbrannte der Machtkampf aufs Neue. Die von Schiiten dominierte Maliki-Regierung hält Sunniten seit Jahren von wichtigen politischen Posten fern. Sunnitische Terrorgruppen wie ISIS kämpfen gegen Schiiten, die sie als "Abweichler" von der wahren Lehre des Islam ansehen.
Bilder: Machtdemonstration der Schiiten
Die ISIS-Kämpfer verbreiten Angst und Schrecken in der Region. Hunderttausende sind vor ihnen auf der Flucht. Von der syrischen Provinz Rakka aus waren die Kämpfer vor einigen Monaten ins westirakische Anbar gekommen. In der Stadt Falluja setzten sie sich im Jänner fest, eroberten Waffendepots der irakischen Armee und hielten Angriffen der Regierungstruppen stand. Vor eineinhalb Wochen nahmen sie die Millionenstadt Mossul ein und zogen dann rasch weiter in Richtung Bagdad. Inzwischen haben die Islamisten große Landstriche im Norden und Westen des Iraks unter ihrer Kontrolle.
Mittlerweile nutzen die Islamisten laut Beobachtern im Irak erobertes US-Militärmaterial im Kampf gegen die syrische Armee. ISIS-Kämpfer hätten am Sonntag bei der Eroberung zweiter Dörfer in der Provinz Aleppo erstmals gepanzerte Humvee-Geländefahrzeuge eingesetzt, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
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