Terror-Armee nähert sich Bagdad

Massenflucht aus den irakischen Städten Mossul und Tikrit, die von Islamisten eingenommen wurden.
ISIL-Kämpfer erobern Stadt um Stadt. USA und Israel fürchten um die Stabilität in ganz Nahost.

Am Montag Mossul, am Dienstag Baiji, am Mittwoch Tikrit – die Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und der Levante" (ISIL) nimmt Stadt um Stadt im Nordirak ein – und rückt in Richtung Hauptstadt Bagdad vor.

In Mossul, der bedeutenden Erdölstadt, wehen ISIL-Flaggen, via Lautsprecher teilen die Islamisten den Einwohnern mit, sie seien "befreit worden". Eine halbe Million Menschen sieht das anders: In Autos, Bussen und zu Fuß verlassen Junge, Alte und Familien mit kleinen Kindern in der glühenden Sommerhitze die Stadt mit ihren laut Schätzungen eineinhalb bis drei Millionen Einwohnern. In der nahen autonomen Region Kurdistan stehen Flüchtlingslager bereit.

Tagelang war um Mossul gekämpft worden, doch großen Widerstand spürten die angeblich nur wenigen Hundert Kämpfer nicht. Der Großteil der Regierungseinheiten kämpfte gleich gar nicht. "Polizisten warfen ihre Waffen weg, zogen sich um und rannten davon", so ein Augenzeuge. Im türkischen Konsulat nahm ISIL 48 Geiseln, darunter drei Kinder. 30 türkische LKW-Fahrer wurden verschleppt. Wie viele Menschen bisher ums Leben kamen, ist unklar.

Siegeszug

Premier Nuri al-Maliki forderte das Parlament auf, den Ausnahmezustand zu verhängen und ließ Waffen an Zivilisten austeilen, um die Kontrolle über Mossul nicht ganz zu verlieren. Mithilfe der kurdischen Regionalregierung soll die Stadt zurückerobert werden. Auch die USA wurden Unterstützung gebeten.

Es geht dabei nicht mehr nur um Mossul, sondern um das ganze Land. Seit Dezember ist ISIL auf dem Vormarsch, hat seit damals Ramadi und Fallujah in ihrer Gewalt. Insgesamt kontrolliert die Gruppe bereits ein Zehntel des Irak und weite Teile des benachbarten Syrien. Und sie verfügt über ein gigantisches Waffenarsenal, das sie von Armee und Polizei erbeutete.

Im Visier sind strategisch wichtige Städte: Das erdölreiche Mossul ist ein bedeutender Wirtschaftsstandort und liegt an einer Autobahn Richtung Bagdad. Baiji, 200 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, verfügt über die landesweit größte Erdölraffinerie, die fast den ganzen Irak versorgt. Dazu kommt ein Kraftwerk, das Strom nach Bagdad liefert. Dieses wollten die Kämpfer gestern einnehmen – zunächst erfolglos. Erfolg hatte ISIL dagegen in Tikrit: Auch diese Stadt wurde offenbar zur Gänze eingenommen. Laut dem britischen Sicherheitsexperten John Drake muss die irakische Regierung damit rechnen, "dass es nun überall passieren kann".

Der Siegeszug von ISIL alarmiert auch UNO und USA. Beide bezeichneten die Einnahme Mossuls als besorgniserregend, Washington gar als Bedrohung für gesamte Nahost-Region. Man unterstütze eine "entschlossene, koordinierte Antwort", teilte das Außenministerium mit.

In Israel, das an Syrien angrenzt, ist derzeit zwar noch der Iran mit seinem Atomprogramm das beherrschende außenpolitische und militärische Thema. Der Kampf gegen Extremisten wie ISIL oder El Kaida wird aber immer wichtiger. So kündigte der Chef der Luftwaffe, Benny Gantz, jüngst an, man werde die Kriegsführung demnächst an diese Art von Feind anpassen – etwa durch den Einsatz von Drohnen.

Polit-Chaos ausgenutzt

ISIL dürfte nicht einfach zu stoppen sein. Geschickt nutzt die Terrorgruppe das Chaos im Irak aus. Seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 regiert die schiitische Mehrheit das Zweistromland. Die Minderheit der Sunniten, einst herrschende Elite, fühlt sich ausgegrenzt und verfolgt. Der schiitische Premier Al-Maliki, seit 2006 im Amt, hat die Spaltung der Gesellschaft aufrechterhalten, etwa durch Massenverhaftungen. In diesem Klima ist die Loyalität zur Regierung nicht allzu groß, bei Stammesführern, Unternehmern und einfachen Leuten, und auch bei Armee und Polizei. Das gilt besonders für Mossul, das bereits nach Saddams Sturz sunnitische Rebellen-Hochburg war und seit dem US-Abzug 2011 wieder ist.

Ohne ein Umdenken der Regierung, so Beobachter, wird ISIL weiter Erfolg haben. Irakische Politiker müssten mehr leisten, warnen auch die USA – "und das gilt auch für Al-Maliki".

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