Wenn die Rezeptionistin vor Freude weint

Wehrschütz: „Man verlässt sich vor allem auf sein Gehör“
Der ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz über schreckliche und schöne Bilder seines Ukraine-Einsatzes.

Er ist seit Jahresbeginn fast ohne Unterbrechung in der Ukraine im Einsatz und berichtet für den ORF an vorderster Front über abgeschossene Flugzeuge, Leichenfelder, Artilleriebeschuss und Flüchtlingswellen. In Lugansk hielt er als einer der letzten westlichen Journalisten die Stellung. Diese Woche war Christian Wehrschütz (52), seit 1999 Balkan-Korrespondent des ORF, für vier Tage auf Heimaturlaub. Mit dem KURIER sprach er – ehe er sich mit zwei Kameras, drei Helmen und neuem Satellitensystem im Gepäck wieder in die Ostukraine aufmachte – über den gar nicht alltäglichen Korrespondentenalltag.

KURIER: Wie oft hatten Sie seit Ausbruch der Ukraine-Krise Zeit zum Abschalten?

Christian Wehrschütz: Ich hatte eine Woche Urlaub mit meiner Frau im Februar, war zehn Tage im Balkan-Einsatz und jetzt vier Tage zu Hause.

Wie bekommt man da die vielen schrecklichen Bilder aus dem Kopf, die Sie Tag für Tag sammeln?

Ich habe einen guten Schlaf, wenn ich dort arbeite. Und es sind in den Halbwachphasen weniger die Bilder von Leichen, die man nicht aus dem Kopf bekommt. Die Stressbelastung ist eher, wenn man zum Beispiel auf den inneren Linien nach Lugansk fährt und weiß, da kann irgendwer die Straßen wieder einmal bombardieren.

Welche Eindrücke sind die hartnäckigsten?

Natürlich die von Zerstörungen. Die von 12-jährigen Kindern, die mit dem Handy ein zerschossenes und brennendes Gebäude fotografieren, und du fragst dich, wie wachsen die auf? Oder die aus einem Spital im verlassenen Lugansk, wo vier Ärzte und acht Kinder nicht wegkommen, das Wasser vom Hydranten holen müssen.

Die Absturzstelle des malaysischen Flugzeugs nicht?

Das waren furchtbare Bilder von entstellten Toten, Leichenteilen, Identifizierungen nach Mann und Frau nur aufgrund der Farbe der Zehennägel – aber die Opfer waren tot. Das belastet mich weniger als das Elend derer, die ihr ganzes Geld in ihr Haus oder ihre Wohnung gesteckt haben und jetzt in einem Trümmerfeld sitzen.

Gibt’s Bilder, die man dem Zuschauer nicht zumuten kann?

Abgesehen von den Leichenbildern nicht. Aber ich stelle auf Facebook viel mehr, als ich im Fernsehen bringen darf. Weil das Argument, man darf Krieg nicht zeigen, halte ich für falsch.

Hat man mit Kameras überall Zugang?

Nicht immer, und man muss wissen: Eine Kamera ist wie eine Waffe. Daher fragen wir, wenn wir Menschen filmen, immer erst ohne Kamera. In heiklen Szenen filmt man oft mit iPhone. Aber wenn Schusswaffen im Spiel sind, wenn man mit Steinen oder Molotowcocktails beworfen wird, muss man teuflisch aufpassen, wie man sein Telefon "zieht", damit niemand glaubt, man wollte eine Waffe ziehen.

Was waren die gefährlichsten Momente?

In Torez und Schachtarsk, wo wir keine 300 Meter vom Schusswechsel entfernt waren. Und einmal lag auf einer Straße eine Handgranate. Wir blieben stehen und haben gefilmt, wie alle Autos ausgewichen sind. Nur ein Lenker, der von unseren Kameras abgelenkt war, sah sie nicht und fuhr mit einem Rad fünf Zentimeter daran vorbei – da hatten er und wir Glück!

Verspüren Sie Angst, oder denkt man nur rational?

Letzteres. Man verlässt sich vor allem auf sein Gehör. Immer das Autofenster offen, um zu hören, ob wo Granatfeuer ist. Und vor Straßensperren den Gurt aufmachen, damit man sich, wenn die beschossen werden, aus dem Auto fallen lassen kann.

Schusssichere Westen tragen Sie nicht?

Wir haben jetzt drei dort, und ich nehme drei Helme mit. Im Auto kann man die kaum tragen, sie sind schwer, heiß. Aber wenn ich jetzt in Lugansk drehen sollte, würde ich sie tragen – eher aus versicherungstechnischen Gründen. Und gegen Splitter haben sie schon Sinn. Wenn man im Gesicht getroffen wird, ist’s eh wurscht.

Das klingt sehr fatalistisch.

Es ist wie beim alten Witz über den Sprengstoffsachverständigen: Sein zweiter Fehler war tödlich, der erste war, dass er Sprengstoffsachverständiger geworden ist. Das Risiko ist immer da. Aber man muss wissen, worauf man sich einlässt, und versuchen, zu kalkulieren. Das Wichtigste ist ein guter Fahrer.

Wie sagt Ihre Frau zum Risiko?

Sie mag all die nicht, die fragen, ob sie Angst um ihren Mann hat. Ihre Einstellung ist: Im Leben ist viel Bestimmung. Ich habe ja schon einmal meinen zweiten Geburtstag gefeiert.

Wann?

Mazedonien 2001, als ich in einem Stützpunkt an einer Straßensperre saß und ein Albaner eine Handgranate reinwerfen wollte und in dem Moment erschossen wurde.

Wie schwierig ist es, in dem Konflikt objektiv zu bleiben?

Nicht schwierig, weil das ist nicht mein Land. Viel größer ist die Gefahr, manipuliert zu werden. Alleine die täglichen Twitter-Meldungen von allen Seiten: Ich könnte den ganzen Tag nichts anderes machen, als das zu lesen und zu überprüfen.

Bei all den Bildern, über die wir gesprochen haben: Gibt’s da auch Lichtblicke?

Ja, als wir von der Absturzstelle der MH 17 zurück nach Donezk wollten, gab’s in Torez plötzlich Gefechte und wir kamen nicht mehr raus. Wir fragten einen Burschen nach einem Schleichweg, der setzte sich zu uns ins Auto und nahm uns mit nach Hause – dort haben sie uns auf Karten den Weg gezeigt, eine Frau brachte faschierte Laibchen, diese Hilfsbereitschaft ist beeindruckend. Oder: Vor zehn Tagen hat mich die Staatspolizei aus dem Hotel in Donezk zum Verhör mitgenommen. Als ich dann wieder zurückkam, ist die Rezeptionistin vor Freude in Tränen ausgebrochen, weil dort gehörst du schon zur Familie.

Balkan, Ukraine – träumt man manchmal auch von einem "ruhigeren" Korrespondentenjob?

Korrespondentenjob auf keinen Fall, ich habe drei Monate in Brüssel gearbeitet. Hier bin ich in nicht eingefahrenen Gleisen, kann sehr frei arbeiten. Auch wenn ich das nicht noch zehn Jahre machen will, man wird schließlich älter und hat Familie.

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